Eine Fahrstuhlfahrt symbolisiert den „Long way down“. Protagonist Will fährt vom 7. Stock, im Hosenbund die Waffe des ermordeten Bruders Shawn, nach unten. Wills Familie lebt in den USA in einem (schwarzen) Brennpunkt-Viertel. Der 15-jährige Ich-Erzähler kennt nur diese von Gewalt, Gangrivalitäten und festen „Regeln“ geprägte Welt (nicht weinen, niemanden verpfeifen und Rache üben) und so hat er „Regel Nr. 3: Rache“ zu erfüllen: „Wird jemand den du liebst / getötet / finde den / der getötet hat / und töte ihn“. Shawns Mörder vermutet Will in einer rivalisierenden Gang. Er wird tun, was er tun muss. Doch es geschieht Unerwartetes. Pro Stockwerk steigt ein Toter zu, darunter Wills Vater, der Onkel, der Mörder des Onkels … Alle hatten „Regel Nr. 3“ befolgt. Muss Will wirklich tun, was er tun muss oder gibt es andere Optionen als den „long way down“?
Erneut gestaltet der afro-amerikanische Autor sozial prekäre Verhältnisse und Kriminalität, wie sie für viele Black Communities in den USA zutreffen (s. RE 34 u. 35). Erzählrahmen und Rasanz der Reflexionen seines Helden – die Fahrt dauert nur etwa eine Minute – spiegeln sich sowohl im Einsatz surrealer Elemente als auch in der Textgestalt. Reynolds komponiert einen außergewöhnlichen, im Englischen am Rap orientierten Versroman. Ein Mix aus Lyrik und Prosa in Versform, womit er eine Kunstform adaptiert, die im „Milieu“ selbst als Widerstandsakt entwickelt wurde. Reynolds‘ gewählte Form bestimmt maßgeblich die emotionale Wirkung des Romans, insbesondere die Glaubwürdigkeit des Protagonisten. Dessen Zerrissenheit zwischen Hass und Schmerz, Wut und Angst findet in einer Art rhythmischem Auf und Ab ihren adäquaten Ausdruck und bietet jugendlichen Leser*innen Ansätze zur Identifikation. Zunehmend gelingt auch der Übersetzerin Petra Bös, den lakonischen, manchmal fast zynischen Tonfall mit zahllosen poetischen Finessen im Deutschen zu imitieren. Die Anagramme wie „Pistole – Eilpost“ funktionieren reibungslos. Freie Verse lassen Raum zum Atmen. Elemente konkreter Poesie machen Gefühle plastisch:
ICH HAB NOCH KEIN
Erd beben erlebt.
Keine Ahnung
ob das so ähnlich ist
es fühl te sich aber an
als ob der Boden sich öffnete
und mich verschlang.
Nominiert für den DJLP 2020 bietet „Long way down“ nicht nur einen Einstieg in die Problematik der Black History, sondern leuchtet auch poetische Möglichkeiten von Sprache aus. Ausdrucksdichte und Kürze der Texte sind hervorragend geeignet, anhand ausgewählter Beispiele auf Thematik und Helden neugierig zu machen.
(Der Rote Elefant 38, 2020)