Julian ist eine Meerjungfrau
Illustration: Jessica Love
Aus dem amerikanischen Englisch Tatjana Kröll
32 Seiten
ab 4 Jahren
€ 13,00

Auf dem Vorsatz planschen fünf Frauen und ein Junge in einem Schwimmbad. Später sitzen der Junge, mit einem Buch, und eine der Frauen in der U-Bahn. Der Text klärt: Das sind Julian und seine Oma. Weiter heißt es: „Und das hier sind drei Meerjungfrauen“. Bezieht sich der Satz auf ein Bild aus Julians Buch oder auf die drei kostümierten Frauen hinter dem Abteilfenster? Egal! Auf den Folgeseiten ist zu sehen, dass Julian mit offenen Augen träumt: Vom Absinken in tiefes Wasser, von langem Haar und Fischschwanz, vom Schwimmen inmitten phantastischer Meerwesen! Erst Omas Hinweis auszusteigen holt ihn zurück. Die kostümierten Abteil-Frauen winken zum Abschied.

Zu Hause teilt Julian Oma mit, dass auch er eine Meerjungfrau sei. Während Oma duscht, verkleidet sich Julian. Mittels Zimmerfarn und Blumen „wachsen“ die Haare, eine Gardine dient als Schwanzflosse, Lippenstift komplettiert das Outfit. Als Oma den so Verwandelten sieht, verlässt sie den Raum, kehrt aber kurz darauf mit einer Überraschung zurück und führt den Enkel an einen außergewöhnlichen Ort …

Jessica Loves Debüt erzählt von der Kraft kindlicher Phantasie und Urvertrauen. Liebe und Respekt der Großmutter ermutigen den Enkel, eine andere Identität zu erproben. Die liebevolle Beziehung vermittelt sich weniger über den Text, dieser umfasst nur Kurz-Kommentare und Mini-Dialoge, sondern über „sprechende“ Bilder“. Dabei tragen Loves ausdrucksvolle Aquarelle, insbesondere ihr schwungvoll-dynamischer Pinselstrich, die Betrachter*innen wie auf „Wellen“ durch die Geschichte, wobei Julians Verwandlungsphasen simultan gestaltet sind. Love weiß um die emotionale Wirkung von Farben und Formen. 

Bräunliche Untergründe und Omas „Rundheit“ strahlen „Wärme“ aus, ergänzt durch eine differenziert gestaltete Mimik, z. B. der vieldeutige Omablick auf „Meerjungfrau“ Julian. Bild-Korrespondenzen belegen, dass Julians Phantasien alltäglichen Erlebnissen entspringen: Die rundlichen Nachsatz-“Nixen“ ähneln den Vorsatz-Planscherinnen, das  blauweiße Muster des großen Fisches aus Julians U-Bahn-Traum taucht in Omas Kleid auf, am „außergewöhnlichen Ort“ wandeln die Frauen aus der U-Bahn. Letzteres ließe New York („People of Color“) als Erzählort vermuten, zumal dort jährlich eine „Mermaid-Parade“ stattfindet. Die Widmung „Für Nana“ signalisiert wiederum – ausgehend vom US-amerikanischen Original, worin Oma „Abuela“ bzw. „Nana“ heißt – Einwanderung aus Hispanoamerika. Somit berührt das Buch mehrere Ebenen von Diversität: Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft …

Zum Einstieg könnten Kinder Abbildungen der einzelnen Phasen von Julians Verwandlungen erhalten und entsprechend der möglichen Reihenfolge ordnen. Was erzählen die vervollständigten Simultanbilder über Julian?

(Der Rote Elefant 38, 2020)

Love_Julian_illu