Robinson kennt ja jeder. Der war Engländer und ganz allein auf der Insel, bis er schließlich froh war, seinen Freitag zu treffen. Sein Schweizer Nachfolger strandet zwar auch auf einer Insel, hat aber seine ganze Familie dabei, Frau und vier Söhne zwischen 6 und 14, die er „die Knaben“ nennt. Wie Defoe seinen Robinson, so lässt auch Wyss seine Gestrandeten allerlei nützliches Gut vom Schiffswrack bergen ‒ eine gute Voraussetzung, um mit der Etablierung auf der Insel zu beginnen. Natürlich erst, nachdem sie ‒ ebenso wie Robinson ‒ Gott für die Rettung gedankt haben. Ganze 10 Jahre dauert die Einsiedelei, Zeit genug, um eine funktionierende Landwirtschaft aufzubauen, mit Wohnhaus, Reit- und Zugtieren und vielseitigen Pflanzungen. Kurz bevor die rettende englische Fregatte auftaucht, finden sie noch „Miss Jenny“, ein Mädchen, das woanders vor längerer Zeit gestrandet war. Fritz, der älteste Sohn, ist inzwischen 24 Jahre alt und darf sich endlich mal verlieben. Mit Bruder Franz schiffen sie sich auf dem Segler ein. Die anderen bleiben in „Neu-Schweizerland“ zurück, wofür der zweitjüngste Bruder Jack eine einleuchtende Begründung hat: „Es ist lustig hier. Von Europa mag ich gar nichts hören. Dort wären sie imstande und würden mich in die Schule schicken.“
Der Text des Berner Pfarrers, den er ursprünglich nur für seine Kinder geschrieben hatte, wurde erst ab 1812 von einem seiner Söhne als Buch verlegt und seitdem mehrfach nacherzählt. Peter Stamm hat eine gelungene Fassung in moderner Sprache vorgelegt, die in manchen altertümlichen Phrasen die Herkunft nicht vergessen lässt. Aber was können Kinder des Internet-Zeitalters, die weniger mit den Füßen in der Natur als mit den Fingern auf der Tastatur der Spielkonsole unterwegs sind, mit einer Erzählung, die schon ein wenig behäbig daherkommt, anfangen? Abgesehen von den abenteuerlichen Szenen und den Begegnungen mit wilden Tieren ‒ wunderbar einfühlsam von Glasauer gezeichnet ‒ regt die Geschichte die ursprüngliche Lust von Kindern an, sich eine Welt neu zu schaffen, und wenn es erst mal nur eine Sandburg ist. Hier z. B. wird neben vielem anderen das Baumhaus erfunden! Wie der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt in einem lesenswerten Nachwort mitteilt, ist das jedem Kind im angelsächsischen Sprachraum bekannt und hat ja auch viele Nachfolger gefunden. Vielleicht könnte man Kinder zum Inselmotiv erst frei phantasieren lassen ‒ auch mit gezeichneten Szenen oder Landkarten ‒ und sie dann damit bekanntmachen, wie die Schweizer Bengels das damals angestellt haben.
(Der Rote Elefant 31, 2013)