Alles beginnt mit einem Diebstahl. Nino und Freund Max klauen eine Videokassette und werden vom Warenhausdetektiv verfolgt. Eine Gruppe von Punks mischt sich ein und verhindert die Ergreifung. Die beiden bedanken sich und Nino schließt sich den Punks an. Besonders Zombie, ein rothaariges Mädchen, hat es ihm angetan. Er lässt sich einen Irokesenschnitt verpassen, nimmt an Saufgelagen teil, qualmt wie ein Schlot und gerät in Auseinandersetzungen mit rechten Hooligans. Die Gruppe provoziert Passanten, demoliert einen Straßenbahnwagen und hat ansonsten keinen Plan. „Ich scheiß auf das, was morgen ist.“ Das Ganze spielt 1995 in Leipzig, wobei einige markante Gebäude benannt sind, wie z. B. die legendäre Nikolaikirche. Das Verhalten der Jugendlichen entspricht deren Desorientierung kurz nach der Wende. Die DDR ist noch nicht vergessen, die neue, „westliche“ Konsumwelt noch etwas Ungewohntes. Auch individuell ist Nino desorientiert. Die zehnte Klasse schafft er mit Ach und Krach, er macht erste sexuelle Erfahrungen und die Familie ist zerbrochen. Dem Vater, in der DDR selbständiger Schuhmacher, laufen die Kunden weg und die Mutter, eine Apothekerin, hat aus einer Mischung aus politischem und privatem Frust über Ungarn in den Westen „rübergemacht“. Am Ende des Romans nimmt die Mutter Kontakt zu Nino auf. Die Szene mit ihr, beider Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu zeigen, hat psychologischen Tiefgang.
Der Autor, gleicher Jahrgang wie der zur erzählten Zeit 15-jährige Ich-Erzähler, verwertete für seinen atmosphärisch dichten Text offenbar eigene jugendkulturelle Erfahrungen. Das Milieu der Punkszene ist allgegenwärtig, untersetzt durch ein historisch verbürgtes Konzert, zu dem einige Figuren fahren. Es sind die „Chaos-Tage“ von August 1995, die Hannover in die Schlagzeilen brachten. Insgesamt gelingt Herwig ein lebendiges Zeitbild über die Stimmung in den „neuen Bundesländern“ und ein Adoleszenz-Roman, der die Suche nach der eigenen Identität und die Orientierung in einer sich wandelnden Gesellschaft zum Thema hat. Schade, dass inflationär gebrauchte „Wie“-Vergleiche das Erzählte ständig überhöhen wollen. Zur Einstimmung könnten das erwähnte „Chaos“-Punkkonzert und eine Bildcollage über die Leipziger Punkszene dienen. Auch sollten Begriffe wie Iro, Hools, Doc Martens bzw. Bomberjacken oder Mifa-Fahrrad, Werkhof, WK 4 und „Fidschis“ geklärt werden.
(Der Rote Elefant 38, 2020)