John Boyne erzählt die Geschichte des 9j-ährigen Alfie Summerfield, der mit seiner Familie in London lebt. Der Erzähler beginnt mit Alfies Erinnerungen an dessen fünften Geburtstag. Viele Freunde sagten ab, Alfie feierte mit Mutter, Vater und Großmutter allein. Seit Wochen schon hieß es, Großes stünde bevor. Und ausgerechnet an Alfies Geburtstag brach der Erste Weltkrieg aus. Eigentlich interessierte das den Jungen nicht „die Bohne“, zumal Vater immer wieder beschwichtigte „Europa sei viel zu zivilisiert, um eine Mordskeilerei anzufangen, von der jeder wusste, dass sie nicht zu gewinnen war.“ Dann meldete sich der Vater doch als Kriegsfreiwilliger. Nun sind es vier Jahre, die der Vater fern ist.
Vieles, was in Alfies Nähe geschieht, kann dieser sich nicht erklären: der freundliche Joe Patience wird von Nachbarn gemieden, verachtet, verprügelt, weil er nicht für König und Vaterland in den Krieg zieht. Der böhmische Kaufmann Janacek und dessen Tochter Kalena – Alfies beste Freundin – werden als „Deutsche“ auf der Isle of Man interniert. Alfies Alltag besteht aus frühem Aufstehen, bevor die Mutter zur Arbeit ins Krankenhaus aufbricht, einem immer karger werdenden Frühstück und langweiligen Schulbesuchen. Die Mutter ist stets übermüdet, lacht kaum noch. Als der Junge entdeckt, dass sie die Briefe des Vaters von ihm fernhält, liest er diese heimlich und spürt darin dessen qualvolle Verzweiflung. „Großer Gott, was mache ich bloß hier? Es ist furchtbar. Ich habe schreckliche Dinge getan. Manchmal würde ich mich am liebsten aus der Welt schaffen …“ Verwirrt und verängstigt ringt Alfie bei der Mutter um Aufklärung. Vergeblich. Um die Mutter zu entlasten, geht Alfie heimlich statt zur Schule als Schuhputzer zum Bahnhof King‘s Cross. Zufällig erfährt er dort, dass der Vater ganz nah ist: als Patient in einer Nervenklinik. Voller Sehnsucht und Sorge macht der Sohn sich auf, ihn nach Hause zu holen. Von dessen Traumatisierung ahnt er noch nichts.
Boyne ermöglicht auf beeindruckende Weise jungen Lesern Einblick in Geschehnisse und Folgen des Ersten Weltkrieges. Der erfahrene Autor installiert einen Erzähler, der konsequent an die kindlich-naive Sicht seines Protagonisten gebunden bleibt und dessen Gefühle und Gedanken sprachlich überzeugend offenbart. Den zeitlichen Rahmen bindet Boyne rezeptionspsychologisch klug an Alfies Geburtstage. Der Leser kann diesen sensiblen und warmherzigen Jungen begleiten und verstehen, über ihn schmunzeln und darüber nachdenken, was (dieser) Krieg in einem Kind und seiner Familie auslöst. „So fern“ die erzählte Zeit auch ist, „wie nah“ kommt sie dem Leser durch die gewählte Erzählinstanz!
(Der Rote Elefant 32, 2014)