Es erscheint zunächst ganz einfach. Man muss nur tief „Es war einmal“ denken und schon stolpert man in eine Geschichte. Zum Beispiel in die Geschichte vom vollen Strand oder die vom kleinen Sieger oder die, die dringend erzählt werden musste …
Die kindliche Ich-Erzählerin macht sich auf die Suche nach der richtigen Geschichte. Dabei gerät sie in einen Geschichten-Taumel, der immer schneller wird und zu immer neuen Geschichtenanfängen führt. Grund der Suche ist das kleine Weißnich. Das arme Geschöpf ist einfach so aus einer eigenen Geschichte gefallen, bevor diese noch überhapt richtig begonnen hatte. Nur Mama und Papa waren schon da und die will es wiederfinden.
Wie „Viegelchen“ ist „Weißnich“ ein typisches Leeuwensches Wesen. Scheinbar verloren in seiner Weigerung, eine eigene Position zu beziehen und doch sehr fordernd, sodass die Protagonisten gezwungen werden, nach Lösungen zu suchen und Entscheidungen zu treffen.
Es ist ein Buch über das Wesen von Geschichten, den Prozess ihres Entstehens und Erfindens. Anfangs weiß man gar nichts und dann sind da auf einmal unenldich viele Möglichkeiten: eine Geschichte als Schulaufsatz, ein Comic, ein Gedicht, eine Geschichte mit, eine ohne Farbe, eine ganz dunkle, eine gefährliche, eine, aus der man raskatapultiert wird (das ist die vom einsamen Helden) oder eine, in der man fast zerfetzt wird …
Auf grandiose Weise inszeniert die Niederländerin ein Feuerwerk von Geschichten-Anfängen. Das Besondere ist dabei das Zusammenspiel von Bildern und Texten. Weint Weißnich, verschwimmen die Buchstaben, kommt Sturm auf, legen sich diese hin, wird Kakao verschüttet, ist ein fleckengroßes Stück Text nicht mehr lesbar. BILDGEDICHTE erweitert die Autorin, Illustratoin und Performerin von Leeuwen somit zum BILDTEXT. Weißnich und dem erzählenden Kind kann man nur folgen, wenn man sich auf virtuose Verküpfung von Bildern im Text und Texten im Bild einlässt.
„Es nahm kein Ende. Es gab so viele Geschichten. Ich wollte nach Hause.“ Irgendwann verzweifelt die Protagonistin fast, aber ihr kann geholfen werden. Ist die Rahmengeschichte erzählt, dann ist eines klar: Es gibt lauter Anfänge. Aber keine Geschichte. Viele Möglichkeiten, aber keine Entscheidung. Diese Grundstruktur lässt sich für eine Veranstaltung gut nutzen. Eine Stationenreise ist vorbereitet. In verschiedenen Räumen, die alle mit „Es war einmal“ bezeichnet werden, findet sich jeweils ein Geschichtenanfang aus dem Buch. Dazu das ästetisch entsprechende Material, seien es Collageschnipsen, Textzitate mit Lücken, Requisiten, Geräusche etc. Die Aufgabe ist klar. Jede Gruppe erfindet eine ganze Geschichte für Weißnich. Einzige inhaltliche Bedingung: Weißnichs Eltern müssen natürlich darin vorkommen, sonst ist es nicht die richtige, sprich seine Geschichte.
(Der Rote Elefant 23, 2005)