Otilla ist mitten in der Nacht davongelaufen. Sie läuft und läuft, bis sie schließlich völlig erschöpft zu einem großen, alten und scheinbar verlassenen Haus gelangt. Doch ihr wird Einlass gewährt: von einem Totenkopf. Der erweist sich als ausgesprochen freundlich und lädt das Mädchen ein, bei ihm zu bleiben. Nur eines muss sie wissen: Jede Nacht erscheint ein Gerippe und fordert einen Kopf. So auch in dieser …
Basierend auf der Geschichte Das Totenköpflein – an verschiedenen Stellen als Tiroler Märchen oder Sage bezeichnet – erzählt Jon Klassen in kurzen knappen Sätzen von einer ungewöhnlichen Freundschaft und von Angstüberwindung. Ganz dem Geschichtentypus verhaftet, verzichtet er auf allzu genaue Hintergrundinformationen. Warum Otilla fortlief oder welche Vergangenheit der Totenkopf hat, bleibt offen. Auf dem Gemälde, das ihn in früherer Gestalt zeigt, sind sogar nur die Füße zu sehen. So bleiben beide Figuren Projektionsflächen, in die viel hineininterpretiert werden kann. Otilla steht dabei in der Tradition vorbildhafter Märchenfiguren, die durch Mut und Gewitztheit jede Gefahr überwinden. Ihre sympathische Abgeklärtheit kombiniert Klassen mit sensiblen Reaktionen auf die Ängste und Nöte des Totenkopfes. Der wiederum fasst schnell Vertrauen zu dem Mädchen und übernimmt schon bald ihr lakonisches „gut“ als Reaktion auf Informationen. Ein seltsames Duo, das einem schnell ans Herz wächst – auch wenn ein Totenkopf als Protagonist erst einmal undenkbar scheint. Die unbeantwortet bleibende Frage, warum er sich so standhaft weigert, sich mit seinem Gerippe wieder zu vereinigen, lädt zu Diskussionen ein.
Die mit Graphit und Tinte gezeichneten Bilder, die Klassen digital bearbeitet hat, wirken, passend zur Geschichte, etwas aus der Zeit gefallen holzschnittartig – und sind dennoch erkennbar im typischen Stil des Künstlers gestaltet. Die Bilder ergänzen und erweitern auf teilweise witzige Art den Text. Als der Totenkopf etwa mahnt, die Masken an der Wand dürfe man nicht anfassen, tragen er und Otilla auf der folgenden Seite eben diese Masken, ohne dass es im Text aufgegriffen würde.
Außergewöhnlich ist auch die Farbgestaltung des Buches: Die ersten Seiten – Otillas Flucht durch den nächtlichen Winterwald – sind ausschließlich in Grautönen gehalten, bis Otilla mit Sonnenaufgang das Haus erreicht. Fantastisch, wie überzeugend Klassen hier das Morgenlicht eingefangen hat. Man spürt geradezu die Wärme, die von ihm ausgeht, und ahnt, dass Otillas Schicksal eine gute Wendung nehmen wird. Eindrucksvoll setzt Klassen auch die Innenräume im Morgen- und Abendlicht und im Schein des Kaminfeuers in Szene – immer symbolhaft für die Wärme zwischen den beiden Hauptfiguren, die einen Ausgleich zur unheimlichen Grundstimmung der Geschichte bietet.
Kinder lieben es, sich zu gruseln! Ein Vergleich mit der Originalsage – Klassen hat sie stark verändert – bietet sich an. So auch das Heranziehen anderer „morbider“ Märchen und Sagen, wie Der redende Totenkopf aus dem Elsass oder das Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.