Sibiro Haiku erzählt von der Deportation litauischer Familien durch die Sowjetunion in den 1940er Jahren. Der Vater der Autorin war eines der Kinder, die nach Sibirien verschleppt wurden. Nach einigen Jahren durften (nur) die Kinder zurück. „Tadam … Tadam“ rattert es in den Ohren Algis‘, der im „Zug der Waisenkinder“ heimfährt. Lautmalerisch beginnt die in Text und Bild sinnlich ausdrucksstarke Graphic Novel, worin sich der 13-jährige Ich-Erzähler rückblickend an die Deportation und das Lager in Sibirien erinnert. Die Rückblicke sparen Gewalt, Hunger, Unglücksfälle, Naturkatastrophen oder Tod nicht aus, aber dem Moment kindlichen Erlebens verhaftet, stehen z. B. Prügeleien mit „Russenkindern“, das Trommeln auf einem Eimer oder Waldgerüche gleichwertig nebeneinander. Hoffnung geben Musik, wie z. B. das Singen im „Apfelchor“, womit Erinnerungen an die heimatlichen Apfelbäume wachgehalten werden, oder die Traum-Geister der Verstorbenen, welche die Lagerinsassen beschützen wie Algis‘ Ganter Martin, den sowjetische Soldaten töteten. Aber auch Sprache gibt Hoffnung. So durchziehen Algis‘ Erinnerungen Tante Petronellas Liebe zur japanischen Kultur, die sich auf die Internierten überträgt. Klassische (in Originalzeichen gedruckte) oder selbst verfasste Haikus mit ihren sinnlich-verdichteten-philosophischen Weltsichten und in Origami-Technik gefaltete (Zug)Vögel symbolisieren dabei die Freiheit und weiten die Enge des Lagers.
Mit lebhaften, auf jeder Seite überraschenden Kombinationen von ganzseitigen Bildern, Figuren(porträts), Detailansichten, Bildfolgen mit und ohne Sprechblasen, Bild-Text-Collagen, kindlich-anmutendem Fließtext mit eingefügten Krakelbildchen oder Briefansichten wirkt die Erzählung überaus dynamisch, aber auch emotional, wozu auch die Farbwahl beiträgt. Herrscht mittels Braun, Grau und Schwarz eine belastende Stimmung vor, so wird diese immer wieder durch Weiß und Gelb aufgehellt. Auch wird die Dramatik von Episoden, wie z. B. das Töten des Ganters, durch ironisch-karikaturistische Verbildlichung aufgefangen bzw. gebrochen, sodass sich Erzählstil und Illustration optimal ergänzen. Für die Leser*innen bleibt durchgängig die Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes positives Ende.
Eine Herausforderung stellte sicher die grafische Verschriftlichung der Übersetzung dar, wobei sich Saskia Drude mit klassischer deutscher Literatur auskennt, wären ihr sonst Verse wie „Grauer Himmel, Hunger im Bauch, warte nur, balde, ruhest du auch“ eingefallen?
Da die Autorin ihre Geschichte als ein „Haiku aus Sibirien“ bzw. „über Sibirien“ versteht, wäre ein Einstieg über die Haikus denkbar. Was vermittelt diese Form über die Welt und welche Bedeutung haben die Haikus in bestimmten Episoden für Algis und andere Figuren?
(Der Rote Elefant 39, 2021)