„Hätte, würde, könnte ich …“ Allen Verordnungen und Regeln zum Trotz phantasieren sich eine namenloser Junge und das Mädchen Ottinka Taube spielend durch „Rotkäppchen“ und „Der Wolf und die sieben Geißlein“. Die Kinder steigern die Varianten der Märchenhandlungen ungebremst; übertreiben, trumpfen auf, halten kraftvoll gegen die Vorgaben und gegeneinander. Schneider fasst ihren Text knapp und konsequent in Dialoge, ohne Erzählerkommentare. Die so geschaffenen Leerstellen nutzt die Bildkünstlerin intelligent und einfallsreich, um mit Kreide, Stempel, Feder und Schere Räume zu schaffen, deren Grenzen immer wieder gesprengt werden. Die Infusionsflasche im Bild-Hintergrund verrät die Örtlichkeit, die der Text verbirgt: das Krankenhaus. In der genialen Idee ausschließlich bildhafter Verortung liegt die besondere Qualität dieses ausgezeichneten Bilderbuches:
Ans Bett gefesselt, behandeln die Kinder mit entfesselter Phantasie sich selbst, ihre Rollen und damit alle Märchen-Figuren neu. Der Text erhält so eine ganz andere Dimension. Kreiert wird ein Subtext über die Angst der Kinder vor dem, was vor ihnen liegt. Was wird passieren, wenn die Krankenzimmertür aufgeht und die Krankenschwester ein Bett hinaus rollt?
Im Text steht: „Mach’s gut, Kleiner, mach’s gut!“ „Du auch, Ottinka. Mach’s auch gut …“
Und die Farben: Bedrohung und Grausamkeit bekommen dunkle Farbflächen, die in einer Palette von Violett über Schwarzbraun variieren. Hoffnung verbreitend schimmern im Kontrast dazu helle Grüntöne von den Wänden. Die Illustratorin verteilt Masken an die Kinder, damit beider lustvolles Spiel überborden kann, sich steigert ins Groteske, denn nun will der Junge doch tatsächlich mit der Großmutter und dem 7.Geißlein den Wolf operieren – Großer Bauschnitt zur Befreiung der anderen! Aber Ottinka wäre nicht Ottinka, wüsste sie nicht Rettung … Nur. Dann wird sie abgeholt, rollt aus dem Krankenzimmer. Der schwarze Vogel, von Stefanie Harjes mit Schlittschuhen ausgestattet, begleitet die Kinder von Seite zu Seite. Nun fliegt er links unten aus dem Bild. Für eine Weile war die Angst gebändigt, vergessen im turbulenten Spiel. Zurück bleibt der Junge mit Plüschtier-Geißlein und einer rosafarbenen Blume auf dem Nachttisch. Grandios, wie sich Text und Illustration in diesem Kunstwerk verbinden, das „bedeutsame Dazwischen“ von „Es war einmal“ und „Wenn sie nicht gestorben sind“ wird neu (an)gedeutet.
(Der Rote Elefant 27, 2009)