Ein Projektwettbewerb zum Thema Klimaschutz – nicht gerade das, wonach sich die 11. Klasse einer Berliner Schule gesehnt hat, aber auf Drängen der Lehrerin findet sich doch noch eine Arbeitsgruppe zusammen. Kera, Max, Elodie und Leonard haben verschiedene Gründe, sich an dem Projekt zu beteiligen. Während Kera tatsächlich etwas bewegen möchte, ist es für Max die letzte Chance, die Noten für die Versetzung zu retten. Elodie muss dringend die Anzahl ihrer Instagram-Follower erhöhen und Leonard will die Gelegenheit nutzen, sich mit seinen Informatikkenntnissen aus der Außenseiterrolle zu befreien. So entwerfen die vier die App „Fair Play“, welche persönliche Konsum- und Verhaltensweisen von Nutzern und Nutzerinnen aufzeichnet und in einem Klimakonto abbildet. Die Klimakonten fügen sich zu einem Gemeinschaftskonto, welches am Ende des dreimonatigen Projekts belegen wird, ob die Jugendlichen es geschafft haben, sich gemeinsam klimaneutral zu verhalten.
Das Romandebüt von Kerstin Gulden fordert mit dem Einstiegskapitel „Die Vier“, einer Art Prolog, sofort zu kritischer Lektüre auf. Darin äußern sich drei der vier Projektbeteiligten so: „Während wir überlegen, ob wir unser Vermächtnis auf die Welt da draußen loslassen, kannst du dich fragen, was du anders machen würdest. Besser als wir damals. Denn wir haben ein Geschenk für dich. Unsere Geschichte. (…)“ Was als „unsere Geschichte“ angekündigt wird, erweist sich in der Folge als die Summe von Einzelgeschichten. Kapitelweise wechseln sich Ich-Erzählungen der „Vier“ ab, wobei z. B. bei Elodie Follower-Posts integriert sind. Zum Ende hin sind es nur noch drei Stimmen … In dem an Morton Rhues „Die Welle“ erinnernden Plot entwickelt das Projekt eine nicht beabsichtigte Eigendynamik, charakterisiert durch Machtmissbrauch, miese Deals, Manipulation und Denunziantentum. All das geschieht jedoch nicht nur über die App, sondern auch im echten Leben. Thrillerähnlicher Spannungsaufbau und Themenrelevanz im Verbund mit individuellen Charakterzeichnungen und sich zuspitzender Psychodynamik innerhalb der Projektgruppe sind geeignet, auch weniger leseaffine Jugendliche anzusprechen. Die am Ende im Raum stehende Frage „Soll die App weiterbestehen oder nicht?“ gibt die Autorin als Denkanstoß an ihre Leser*innen weiter, die sich damit auch über das eingangs erwähnte „Vermächtnis“ klarwerden müssen.
Um auf die Lektüre neugierig zu machen, könnten kontrovers angelegte Figurenstatements dienen, die aktuelle Diskussionen aufgreifen: Inwiefern ist der Klimawandel die Verantwortung von jeder und jedem Einzelnen? Wie steht es um die digitale Privatsphäre? Ist es vertretbar oder gar notwendig, individuelle Freiheit dem Kampf gegen den Klimawandel unterzuordnen?
(Der Rote Elefant 39, 2021)