Kirsten Boie gehört nicht nur zu den renommiertesten Autorinnen Deutschlands, sondern auch zu denen, die sich immer wieder direkt politisch einmischen, egal ob es um hiesige Leseförderung, Schule ohne Rassismus, Arbeits- oder Obdachlosigkeit geht. Im Rahmen ihrer Unterstützung für Hilfsprojekte in Swasiland ist sie mehrfach dorthin gereist. Im zweitkleinsten Staat auf dem schwarzen Kontinent, dem mit der höchsten Welt-AIDS-Rate, sah und erfuhr sie „Dinge, die man nicht erzählen“ kann. Sie lernte Waisen von AIDS-Opfern kennen, Kinder ohne Kindheit, die aus Armut oder absurden Gesetzgebungen nicht zur Schule gehen können, die schuldig werden, ohne schuld zu sein. In Swasiland leben 150.000 Kinder als Waisen. Das sind 45 % aller Kinder bzw. 12 % der Gesamtbevölkerung. Boie hat ihre Erfahrungen zu vier Schicksalen verdichtet, denen der Jungen Thulani und Sipho und der Mädchen Sonto und Lungile. Die Autorin widmet sich ihren Protagonisten mit achtungsvoller erzählerischer Distanz („Ich kenne einen Jungen in Afrika …“). Es ist eine Art kommentierter erlebter Rede, die sich dem Fühlen und Denken der Protagonisten behutsam annähert, ohne dass die Erzählinstanz vorgibt, es genau zu kennen. So heißt es nach Lugiles erstem Freier-Erlebnis vorsichtig: „Dann ist es nicht so schlimm, wie Lugile gefürchtet hat, aber schlimm ist es schon …“ und Sipho ruft „Herrn Jesus“ als Hoffnungsträger an. Die Form macht nachvollziehbar, dass die Protagonisten nicht in der Lage sind, Erlebtes gedanklich zu verarbeiten. Alle Kraft wird für das Irgendwiedurchkommen verbraucht, egal ob Lugile sich prostituiert, um „Schulschuhe“ für die kleine Schwester zu kaufen oder Sipho ein Ei für sich beansprucht, was eine Kettenreaktion mit Lebensgefahr für die Großmutter auslöst.
Was das alles bedeutet, geht über den Erfahrungshorizont hiesiger Leser weit hinaus. Aber wissen müssen sie es, auch um Parolen von Politikern kritisch zu werten. In diesem Sinne wäre neben dem sehr persönlichen Nachwort der Autorin auch eine historisch und aktuell politisch wertende Sachdarstellung von Swasiland hilfreich gewesen. Das gilt auch für eine korrekte Karte. So ästhetisch stimmig Regina Kehns holzschnittartige, in Schwarz, Braun und Rot gehaltene Illustrationen die fiktiven Texte stützen, so banal wirkt ihre Swasiland-Illustration. Was Leser jeden Alters aus diesem Buch für persönliche Schlüsse ziehen, ist offen. Als Angebot im Geographie- oder Politikunterricht ist es ein Muss. Boie lässt in ihrem Nachwort keinen Zweifel darüber, wie wenig ihr Engagement bewirkt. Nichts zu tun jedoch, war ihr nicht möglich. Weiterführende Informationen unter: www.mobidik-swasiland.org
(Der Rote Elefant 32, 2014)