Der Zweite Weltkrieg ist seit ein paar Wochen vorbei, aber das weiß Jakob noch nicht, der versteckt in einem zerbombten Haus in Hamburg lebt. Der Vater ist tot, die Mutter wurde als Jüdin nach Theresienstadt deportiert. Ein Bekannter bringt täglich etwas Essen. Aber gestern kam er nicht, heute auch nicht … Auch für Hermann und Traute ist nach Kriegsende „nicht alles gut“. Was soll Hermann, ehemals HJ-Führer, jetzt mit seinem Leben anfangen? Außer den Vater ständig aufs Klo zu tragen, denn allein kommt der ja nicht mehr die Treppe runter, so ohne Beine, die im Krieg weggeschossen wurden. Und als Bäckerstochter leidet Traute zwar keinen Hunger, hat aber die aus Ostpreußen geflüchtete Familie hinzunehmen, die im Wohnzimmer einquartiert ist. Früher mal hatte sie Freundinnen. Wo die wohl jetzt sind?
Dicht gebunden an die Erfahrungswelten der drei 14-jährigen Hauptfiguren schildert Kirsten Boie eine Woche im Juni 1945, wobei sich Erlebnisse, Gedanken und Gefühle der Figuren kapitelweise abwechseln. Dieses Erzählverfahren bietet heutigen Jugendlichen verschiedene Sichten und Zugänge auf eine Zeit, die für die Figuren von direkten und emotionalen Kriegsfolgen bestimmt ist: Hunger, Kälte, Schwarzmarkt, Verlust von Familie und Freunden, auch aufgrund des Holocausts … Die Knappheit an Nahrung, Kleidung, Wohnraum, aber auch an Liebe, nimmt Boie sprachlich auf, indem häufig Sätze aufs Notwendigste verknappt sind: „Gab ja keine mehr“ oder „Waren weniger und weniger geworden“. Aber Boie gestaltet ihre Figuren, bei allem Verständnis, nicht nur als Sympathieträger. Besonders bei Hermann ist die manipulative Nazi-Propaganda noch sehr präsent, woraus dessen Verzweiflung resultiert, dass alles Geglaubte nicht mehr stimmen soll. Traute erscheint dagegen eher naiv-unreflektiert. Und wollte Jakob nicht merken, dass der Krieg vorbei war?
An die Differenz zwischen Nähe und Distanz zu den Figuren könnte angeknüpft werden, indem in drei Arbeitsgruppen jeweils nur eine Figur entsprechend ihrer Kapitel betrachtet würde. Daraus ließen sich zukünftige Lebensläufe ableiten und diskutieren. Wo würden Jakob und die aus dem KZ zurückgekehrte Mutter leben? In Hamburg oder Israel? Schafft es Hermann nach Amerika? Und würde für Traute wirklich „alles gut“?
Boies Jugendbuch erschien Anfang 2022 als zeithistorisch notwendiger Roman, da kaum noch Zeugen des Zweiten Weltkrieges leben. Nun ist „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ angesichts des Krieges gegen die Ukraine von unfassbarer Aktualität und der Titel klingt fast wie eine Provokation.
(Der Rote Elefant 40, 2022)