Wieder erweist sich Kordon als einfühlsamer Erzähler deutscher Geschichte. Im Mittelpunkt des Romans stehen eine bewegende Jugendfreundschaft und eine große Liebe: Paul und Julian wachsen in Berlin wie Brüder auf. Den Zweiten Weltkrieg erlebt Julian in Verstecken, denn er ist Jude. Nach dem Krieg könnte für seine Freunde und Bille, Pauls Schwester und Julians Liebe, ein neues Leben beginnen. Doch nach wenigen Tagen Frieden werden die Jungen verhaftet und kommen in ein sowjetisches Internierungslager – das ehemalige KZ Buchenwald. Paul erlebt an Julians Seite dessen großes Unglück von der beginnenden Ausgrenzung bis zur Deportation seiner Eltern. Als Julian untertauchen muss, besucht Paul ihn so oft er kann, beschafft zusätzliches Essen, bringt Informationen und vor allem Hoffnung auf ein anderes Leben. Und doch versteht Paul kaum, wie Julian das alles aushält. Damit gestaltet Kordon eine Figur, die wie der Leser auch beobachten und fragen kann.
Fassungslos liest man, was im nationalsozialistischen Berlin mit Juden und Andersdenkenden geschah, und noch fassungsloser liest man, was unter der sowjetischen Besatzungsmacht geschah. Vergeblich bemüht sich Paul, seinem Freund auch hier Zuversicht und Hoffnung zu geben. Vergeblich erinnert er ihn an die schwere Zeit, die sie gemeinsam durchgestanden haben. Julian erkrankt aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Unter den unmenschlichen Haftbedingungen resigniert er schließlich. Zu groß ist die Last, die er zu tragen hatte. Julian stirbt.
Paul erzählt als Erwachsener rückblickend das Geschehen. Vor allem durch diese Erzählperspektive gelingt es Kordon, seine Figuren ohne Pathos agieren zu lassen. Distanz und Objektivität prägen den Erzählton. So ermöglicht der Autor es, Unrecht als Unrecht zu erkennen und Ursachen dafür zu sehen. Psychologisch klug und historisch genau baut Kordon den Text, setzt statt auf Rührseligkeit auf Mitgefühl, statt auf Rachsucht auf Wissen. Das ist die große Leistung dieses Romans. Klaus Kordon schrieb dieses Buch auf der Grundlage von Augenzeugenberichten und historischen Fakten. Das Buch kann Anlass sein, in der Umgebung nach Zeitzeugen für ein Gespräch zu suchen oder eine der Gedenkstätten aufzusuchen, die an diese Zeit erinnern.
(Der Rote Elefant 23, 2005)