Alle zählen
Illustration: Kristin Roskifte
Aus dem Norwegischen von Maike Dörries
64 Seiten
ab 5 Jahren
€ 18,00

Was für ein schöner doppeldeutiger Titel! „Ein“ Junge liegt im Bett, betrachtet den Sternenhimmel und fragt sich, wie viele Menschen wohl gerade dieselben Sterne sehen. Die nächste Seite zeigt Jungen und Vater im Wald: also „zwei“ Menschen. Dann werden es drei, dann vier und von Seite zu Seite immer mehr, bis es von Personen nur so wimmelt. Letztlich sind es 1000 (!), ca. 500 männliche und 500 weibliche Figuren, wobei das Geschlecht eigentlich keine Rolle spielt. Alle 7,5 Milliarden Erdenbewohner können selbst in einem so großformatigen Bilderbuch nicht erfasst werden, aber trotzdem erfährt das lesende, zuhörende bzw. betrachtende Kind: „Alle zählen. Und einer von ihnen bist du!“ Damit schuf Kristin Roskifte viel mehr als ein Zähl-Lehrbuch. Pro Seite kreiert die norwegische Künstlerin Orte und alltägliche oder außergewöhnliche Situationen, in denen ihre Figuren von 1-1000 agieren: auf der Straße, beim Einkaufen, beim Sport, in der Schule, bei Kunstereignissen, auf einer Hochzeit, in der Notaufnahme eines Krankenhauses, beim Ausbruch aus einem Gefängnis … Dabei erläutern zwei bis drei Sätze Ort und Situation, z. B.: „Zwei kaufen Zutaten für einen Kuchen.“ Und schon ist genaues Hinsehen und Rätseln provoziert. Welche könnten das sein? Bild-Anspielungen auf einer Seite werden auf anderen aufgelöst. Aber nicht alle. Einige Figuren tauchen immer wieder auf, wobei alle Figuren in kräftig-zweifarbiger Kleidung aus blassblauen, schemenhaften Hintergrundkonturen hervorleuchten. Wiedererkennbar sind sie darüber hinaus über Frisur bzw. Körperhaltung. Außer Vor- oder Zurückblättern, Mimik und Gestik, hilft z. T. auch Logik: Wer einen Film in 82 Jahren noch einmal sehen wird, muss sehr jung sein; wer den Film langweilig findet, könnte der sein, der schläft, (mal wieder!) aufs Handy starrt oder …

So erzählt Roskifte über einige Figuren im Bild ganze Geschichten, aber manch vermeintlicher Kontext bricht auch unvermittelt ab. Damit thematisiert die Künstlerin das Zufällige in jedem Leben mit: Welche Momente, welche Bekanntschaften das Leben bestimmen oder unbemerkt bleiben, erscheint ebenso offen wie mancher Handlungsfaden. Insgesamt vermittelt Roskifte auf inspirierend-fantasievolle Weise, dass Menschen von Natur aus gleich und trotzdem verschieden, jeder und jede wertvoll, aber als einzigartige Individuen für die Gemeinschaft unverzichtbar sind, sodass „Alle zählen“. Jeder Art Vorurteile erteilt sie damit eine Absage. 

Trotz weiterer Geschichten-Auflösungen auf der Webseite des Verlages, bleibt noch genügend Geheimnisvolles, um mit Kindern Geschichten zu Roskiftes Denkangeboten zu erfinden. Auch bieten die beiden letzten Seiten zusätzliche Fragen an, die zwar vom Buch nicht alle beantwortet werden, aber spannende Anregungen zum Philosophieren mit Kindern liefern. 

(Der Rote Elefant 39, 2021)

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