Irma weint, denn ihre Puppe ist weg. Da spricht ein Herr sie an. Als er erfährt, was geschehen ist, reagiert er sofort: Die Puppe sei verreist und er habe einen Brief von ihr für Irma erhalten. Am nächsten Tag übergibt der Herr Irma diesen Brief, und sie erfährt, dass die Vermisste auf Abenteuerfahrt ist. Täglich bekommt Irma nun einen weiteren Brief. Die Puppe berichtet von einer Gipfelerklimmung, einem Parisbesuch, vom Teetrinken mit Peter Hase und von Architekturgesprächen mit Gaudí … Doch die Briefe werden immer kürzer, der Husten des Herrn immer schlimmer und irgendwann kommt der letzte Puppenbrief …
Der Herr ist Franz Kafka, und die Geschichte ist laut der Begleiterin seiner letzten Lebensmonate, Dora Diamant, tatsächlich in einem Berliner Park passiert. Unabhängig vom realen Hintergrund erzählt die Autorin Larissa Theule von einer wunderbaren Begegnung zwischen einem todkranken Erwachsenen und einem Kind, auf dessen Trauer und Nöte er sich einlässt. Er hilft ihm, Abschied zu nehmen und loszulassen. Gleichzeitig inspiriert er das Mädchen, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, „Neues zu entdecken“ – und (vielleicht) zu schreiben. Rebecca Green illustriert die Geschichte in klarer, fast plakativer Formensprache, in herbstlich gedeckten Farben, die Zeit der 1920er Jahre bei Kleidung oder Spielzeug aufgreifend. Die Gestaltung der Protagonisten mit großen Ohren und spitzen Nasen verweigert sich einer allzu großen Niedlichkeit. Die Illustrationen der Puppenabenteuer mit knopfäugigen, putzigen Tierbegleitern bilden dazu einen auffälligen Kontrast; sie trennen die reale Handlungsebene von den erdachten Reiseerlebnissen.
Larissa Theule und Rebecca Green gestalten für Kinder (und Erwachsene) eine eher unbekannte Seite des Autors Franz Kafka. Dessen Witz, Charme und Freundlichkeit, welche ihm viele seiner Zeitgenossen attestierten, stehen häufig im Schatten seiner düsteren und beklemmenden Geschichten.
Larissa Theule lässt die Puppe, laut Selbstaussage dem heutigen Zeitgeist entsprechend, am Ende auf eine Antarktisexpedition gehen, während Franz Kafka die Puppe heiraten und eine Familie gründen ließ. War diese Veränderung wirklich nötig? Können Heirat und Familiengründung nicht auch Teil von vielfältigen, diversen Lebensentwürfen in der Kinderliteratur sein? Zumal der von Kafka gewählte Lebensentwurf Anlass für Diskussionen böte! Warum Kafka seine Entscheidung traf, ist unbekannt. Ganz sicher nicht, weil er diesen Weg für den einzig möglichen und angemessenen für Frauen hielt. Seine Beziehungen und Korrespondenzen (u. a. zu seiner Schwester Ottla, Felice Bauer, Milena Jesenská) bezeugen, dass Kafka die Selbstbestimmung von Frauen akzeptierte und unterstützte.
Bei der Beschäftigung mit dem Buch ist dieser Eingriff in die Geschichte leicht aufzulösen: Was denken die Kinder, warum die Puppe von nun an nicht mehr schreibt? In selbst gestalteten Puppen-Briefen können sie verschiedene Lebenswege erfinden und in Text und Bild setzen.