„Gute Nacht, mein Schatz. Träum was Schönes!“ Bis auf einen kleinen Spalt schließen die Eltern die Zimmertür. Der Raum versinkt im Dunkeln. Mit offenen Augen liegt das Mädchen im Bett und sieht, wie Tapetenmuster zu Blumenranken, Kommoden zu Köpfen und Kuscheltiere zu lebendigen Wesen werden. Voller Neugierde steht das Kind auf …
Laurent Moreau greift mit seinem zweiten, auf Deutsch erschienenen Bilderbuch auf ein bekanntes Motiv zurück: Ein Kind imaginiert in der Zeit zwischen Wachen und Schlafen eine Welt, in der sich Realität und Traum überlagern. Während andere Bücher dieses Thema oft mit kindlichen Ängsten verbinden, ist Moreau vielmehr an den kreativen Aspekten kindlicher Phantasie interessiert. Jeder Gegenstand des Zimmers hat seine eigene (Verwandlungs-)Geschichte, die Seite für Seite verfolgt werden kann. Der Hase jagt der Ente hinterher, bis er auf ihrem Rücken sitzt. Das Mädchen klettert auf eine Ranke, die – wie sich auf der nächsten Seite zeigt – das Bein eines Reihers ist. Dass dabei aus unbelebten Gegenständen zumeist Tiere oder Pflanzen werden, habe – so der junge französische Illustrator – mit seiner Kindheit auf dem Land zu tun. Die Natur sei für ihn eine wichtige Inspirationsquelle.
Obwohl Moreau mit Pinsel und Tusche arbeitet, wirken die auf wenige Farben reduzierten Bilder eher wie Lithografien. In den vorherrschenden Blau-, Schwarz- und Beigetönen setzen allein die roten Wangen des Kindes, ein gelber Schmetterling und der weiße Mond farbige Akzente. Die Grundfarbstimmung des zeitlos wirkenden Zimmers wird von Doppelseite zu Doppelseite heller, bis plötzlich alles in tiefem Schwarz versinkt und nur noch verschiedene Augenpaare zu sehen sind. Danach wandert der Blick des Mädchens zur Tür, welche als festes Element in alle Illustrationen integriert ist. Das Kind schlüpft ins Bett und schließt die Augen. In der Tür stehen lächelnd Vater und Mutter: „Sieh nur, wie schön sie schläft.“ Die kurzen Sätze der Eltern am Beginn und Ende stehen auf dem Vor- bzw. Nachsatz des Buches. Auf den Seiten dazwischen schafft Moreau einen ohne Worte auskommenden kindlichen Bilder-Kosmos, der den Betrachter zum genauen Schauen verführt. Die Geborgenheit des Kindes, gegeben durch den elterlichen Rahmen, erscheint als Basis für dessen angstfreie und autonome Weltentdeckung. Im Rahmen einer Lesenacht im Kindergarten kann das Buch dazu anregen, Spielzeug mittels Lichteffekten lebendig werden zu lassen und sich dazu Geschichten auszudenken.
(Der Rote Elefant 34, 2016)