Linda Wolfsgrubers „kleine Waldfibel“ erscheint zum einen wie eine Liebeserklärung an den Wald überhaupt, ist aber auch generell als Plädoyer für Langsamkeit und genaues Wahrnehmen der Umwelt zu verstehen. Angelegt als Bestimmungs-, Lyrik-, Koch- und Sprach-Spiel-Buch, bietet es interdisziplinäre, genreübergreifende und sinnliche Zugänge, sodass naturwissenschaftliche Informationen und Leseförderung Hand in Hand gehen. Dazu kommt eine ästhetisch überzeugende, gedeckt farbige, an historische Bücher erinnernde Gestaltung, die emotional Wärme ausstrahlt. Schon der Umschlag, braun, rau und robust wie Baumrinde, darin eingeprägt die Silhouette eines Nadelwaldes und eines Hirschkäfers, sind ein optisches und haptisches (Einstiegs-)Erlebnis. Als Texteinstieg wählte die Künstlerin ein programmatisch zu verstehendes Gedicht von Heinz Janisch, das so beginnt: „Heute will ich auf dem Baum wohnen,/will mich mit einem Ausblick belohnen“. Aus-, Ein- und Überblicke können die Leser- und Betrachter*innen im Folgenden wie bei einem realen Spaziergang durch den Wald gewinnen. Und so wie beim Gehen Gedanken assoziativ wechseln, wechselt Wolfsgruber kreativ zwischen sachlichen und literarischen Textsorten, die sie wiederum mit abwechslungsreichen Aquarell- und Tuschezeichnungen ausstattet.
Auf der Textebene finden sich dabei Waldgedichte aus verschiedenen Epochen, Baum-Steckbriefe mit ergänzenden Fakten, z. B. über Photosynthese oder Insektenhotels, aber auch Anleitungen zum Schnitzen für Maipfeifen aus den Hölzern des Haselnussstrauchs oder Rezepte für Brennesselaufstrich, Holunder- und Fichtenwipfelsirup. Auch erhellt sich, warum Kiefern gern für Theaterbühnen verwendet werden und warum ganz verschiedene Baumsorten „Käferbaum“ heißen. Bildkünstlerisch wechselt Wolfsgruber zwischen Frontal-, Vogel- und Froschperspektive. Ästhetisch besonders reizvoll wirken 12 ganzseitige Tuscheillustrationen von Laubbäumen auf Transparentpapier, die mit Farbzeichnungen des Stammes und der Wurzeln unterlegt sind, ergänzt durch vergrößerte Details der jeweiligen Blätter, Blüten, Knospen und Früchte. Da die „kleine Waldfibel“ in jeden Rucksack passt, ist sie als Begleiterin für Unternehmungen mit der Familie (nicht nur in Corona-Zeiten) und überhaupt für jede Art von Ausflügen mit Kindern bestens geeignet.
Als Einstieg böte sich Auguste Kurs‘ Gedicht „Nur eine Stunde im grünen Wald“ an. Was könnte in „nur einer Stunde“ alles im Wald gesammelt, gerochen, gehört oder gebaut werden? Welchen „Ausblick“ bietet der Wipfel eines Baumes, was ist beim Hocken vor einem Baumstamm bzw. Liegen auf dem Boden zu entdecken? Und passt zu diesen Entdeckungen wieder ein Gedicht?
(Der Rote Elefant 37, 2020)