„… wenn einem der erste Milchzahn ausfällt, soll man ihn so schnell wie möglich aufs Dach werfen. Dann wächst man und wird später ganz groß.“ An diesen Satz des Großvaters erinnert sich das chinesische Mädchen Niuniu als es aus dem Mittagsschlaf erwacht und der erste Zahn ausgefallen ist. Aufgeregt macht sich Niuniu in der Mittagshitze auf die Suche nach ihrem Opa und durchquert dabei die engen Gassen der Altstadt von Nanjing. Das Mädchen läuft unter Leinen mit bunter Wäsche hindurch, grüßt den auf einem Holzbock sitzenden Scherenschleifer und pausiert vor einem Aquarium auf einem Fahrrad, wo bunte Fische zum Verkauf angeboten werden. Mit Vorfreude auf den lauten Knall, den die über offenem Feuer zu drehende Popkornmaschine erzeugt, streift sie vorbei am Verkäufer Wangwang und findet schließlich ihren Opa beim Schachspielen am alten Brunnen. Gemeinsam gehen sie zurück und werfen den Milchzahn auf das Dach des alten Hauses, neben die ersten Vorderzähne von Papa und Opa. Nun wird es auch Niunius Zahn behüten – „auf dass Niuniu wachse und groß werde“.
Liu Xun, Jahrgang 1974, liefert mit ihrem Bilderbuch Einblicke in den Alltag in Altstadtvierteln im vormodernen China. Die Autorin hat – inspiriert durch die Erlebnisse mit ihrer Tochter – das „Zahn“-Motiv aufgegriffen, um eine Geschichte über sozioökonomische Veränderungen zu erzählen, die auch Kindern ohne Landeskenntnisse die Radikalität im Städtewandel vor Augen führt. Denn so schnell wie dem Kind ein neuer Zahn wachsen wird, wandelt sich das dargestellte Bild der Stadt: weg von den alten Häusern mit ihren Familiengeschichten hin zu einer glatten, anonymen Hochhausszenerie. Hinter der Altstadt sieht man die Baukräne emporragen. Der aus der Perspektive von Niuniu erzählte Text kommt etwas naseweis und altklug daher, weist sie aber auch als genaue Beobachterin ihres Umfeldes aus. Die Stärke des Buches liegt in den erzählerischen Bildern, die in zarten Aquarell-Farben und mit filigranen Bleistiftzeichnungen von Menschen und Gegenständen dazu anregen, sich in nostalgisch anmutende und immer mehr verblassende Zeiten hineinzuversetzen.
Details wie z. B. die roten Schriftzeichen als Markierung für zum Abriss bestimmte Häuser oder die auf Vor- und Nachsatz abgebildeten brüchigen Hausnummernschilder stimmen ästhetisch auf das Motiv der Veränderung ein.
Eine kleine Schachtel mit der Illustration von Niunius Milchzahn böte Anlass, um mit Kindern über ihre „Zahnerlebnisse“ und damit über Veränderung(en) nachzudenken – individuell und gesellschaftlich.
(Der Rote Elefant 38, 2020)