Der Tag ist müde und gleitet langsam aus. Menschen, Tiere und Dinge warten, warten auf die Nacht: Der kleine Max, der Fuchs, die Vögel, das Geschirr in der Küche, die Vorhänge vor dem Fenster. Plötzlich hält Max einen Schlüssel in der Hand, der genau in das Schlüsselloch einer mitternachtsblauen Kiste passt. „Klick … und noch einmal Klick … der Deckel springt auf … WUUUSCH! Der Tag schlüpft hinein, während die Nacht heraus saust“. Schwungvoll tut sie das, tiefschwarz rauscht sie empor – Richtung Himmel … Die Illustrationen bilden den langsamen Übergang vom Tag zur Nacht und umgekehrt als realistischen Ablauf von Zeit ab. Dieser wird mit der phantastischen Idee von der weggesperrten Nacht kontrastiert. Aber Geschichten haben ihre eigene, gleichnishafte Wahrheit und so kann ein Kind die Macht besitzen, die Nacht zu befreien und wieder einzusperren – sofern es den passenden Schlüssel besitzt!
Louise Greig und Ashling Lindsay setzen mit ihrer Gute-Nacht-Geschichte entwicklungspsychologisch bedingten Ängsten und Gruselphantasien mancher Kinder, die sich z. B. vor der finsteren Nacht fürchten, etwas entgegen. Dazu decken sie Nacht-Seiten auf, die liebenswert sind und gleichzeitig geheimnisvoll erscheinen. So erleben die Kinder die Nacht als einfallsreiche, zugewandte und schelmische Akteurin, die Gutes und Behütendes bereithält, z. B. eine Nähe, die es am Tag nicht gibt. Auf überraschende, manchmal irritierende Weise finden sich Paare: „Die Nacht gibt einem Teich einen Mond und einer Gans einen Maulwurf!“
Der im Präsens überschauend erzählte Text wirkt mit seiner poetisch-dichten Sprache stark sinnlich, lässt vieles offen, birgt Rätsel und animiert zu eigenen Deutungen. „Eine Rose hat jetzt einen Fuchs. (…) Der Ast hat die Eule, die Wand hat einen Baum.“ Überdies ist der Text geschickt in die mit Tusche gezeichneten Bilder platziert, was dessen sinnliche Wirkung noch verstärkt. Lindsay arbeitet mit zarten Pastell-Farben, vornehmlich Rot-, Braun- und Grautönen, und schattiert dezent.
Wenn die Nacht erwacht ist ein wortstarkes Buch, das zu ruhevollem Betrachten und langsamen (Vor)Lesen einlädt, den Tag verträumt ausklingen lässt und der Nacht Raum gibt. Es kann mehr oder weniger ängstlichen Kindern Mut machen, selbst nach Paaren zu suchen, die sich nur in der Stille und Dunkelheit der Nacht finden lassen: allein, mit Freunden oder im Rahmen einer Lesenacht. Denn jedes Kind hat den Schlüssel in der Hand, seine Ängste freizulassen oder wegzusperren.
(Der Rote Elefant 35, 2017)