„Der Junge ist zerstreut und spitzfindig. Seine edlen Gefühle stehen der Entwicklung des notwendigen Wirklichkeitssinns im Wege.“ So Lehrer Trommelpfiff über Tistou, den er im Auftrag von dessen Vater, einem Waffenfabrikanten, privat unterrichtet, weil Tistou in der Schule stets einschlief. In „Gartenkunde“ schläft Tistou nicht ein. (K)ein Wunder! Er braucht nur den Daumen in die Erde zu stecken und schon blüht etwas. Aber zum Unterricht gehören auch „Gesetz und Ordnung“, „Elend“ „Zoo“ und „Krankheiten“. Da Tistou in diesen Fächern viel Unlogisches entdeckt, fragt er nach. Die Antworten bleiben aus und so handelt der Junge ohne „notwendigen Wirklichkeitssinn“: Er bepflanzt Gefängnisse, Baracken, Krankenzimmer und Käfige, womit er die Welt ihrer Bewohner verbessert. Sogar einen Krieg verhindert er. Mit blühenden klebrigen Ranken umwuchert, sind die väterlicherseits produzierten Waffen unbrauchbar. Alles könnte so weitergehen, aber dann stirbt Tistous Freund, der Gärtner. Auch die schönste Himmelsleiter aus Glyzinien bringt ihn nicht zurück. Also klettert Tistou die Leiter hinauf … Unten formt sich auf einer abgefressenen Wiese aus nachwachsenden gelben Löwenzahnblüten der doppelsinnige Satz: „Tistou war ein Engel.“
„Tistou mit dem grünen Daumen“, 1959 in Deutschland erstmals ediert, ist nach wie vor aktuell. Schrieb der Literat, Widerstandskämpfer und Pazifist Druon (1919 – 2009) damals gegen den Algerien- und Koreakrieg an, so werden heutige Leser an Kriege im Nahen Osten und in Afrika denken. Aber: Bringen Waffen kein Geld mehr, stellt „Monsieur Papa“ flugs auf Blumen um: „Sagt nein zum Krieg, aber sagt es mit Blumen“. Und wenn Elendsviertel aufblühen, folgt Gentrifizierung … Macht- und Profitgier machen erfinderisch, auch das wusste der kapitalismuskritische Autor bereits. Situationskomik, Leseransprache, Erzählton, Dialoge und satirisch überzeichnete Erwachsene erinnern an Kästners „Konferenz der Tiere“. Nach Meinung des auktorialen Erzählers wissen Erwachsene nicht „woher wir … kommen, warum wir auf der Welt sind und wozu. Sie tun nur so“. Der empathische Tistou weiß es: für die Schönheit und die Freude. Dafür werden ihn Leser lieben. Auch dafür, dass er sich nie ausstellt, was in den farbintensiven, zarten Illustrationen von Jacqueline Duhème, gezeichnet im Stil der 1950er Jahre, zum Ausdruck kommt. Darin muss der blasse kleine Junge in seinen Schöpfungen fast gesucht werden. Insgesamt verstärken die Illustrationen mit ihren Ranken, Blüten und Farnen das Utopisch-Märchenhafte dieses zeitlos-moralischen, aber nicht moralisierenden Klassikers, der in jedes Kinderbuchregal gehört.
(Der Rote Elefant 35, 2017)