„Alle im Wald sind still, nur das Piano nicht. Auch kein Vogel singt. So schön spielt der Bär Klavier.“ Die Tiere lauschen gebannt, doch plötzlich ertönt ein lautes Gähnen. Vom Bären. Er ist erschöpft und müde, möchte seine Finger entspannen, faul auf einem Ast liegen und einfach seine Ruhe haben. Doch die anderen Tiere bedrängen ihn, schreien immer lauter: „Mehr, mehr, Pianobär!“, verfolgen ihn sogar bis auf einen hohen Baum. Als Bär sich endlich mit Bärengebrüll zur Wehr setzt, verstummen alle vor Schreck und entfernen sich. Bär ist endlich allein. Doch dann steht das Zebra vor ihm. Zum Dank für die schöne Musik möchte es dem Bären auch eine Freude machen und ihm vorlesen. Eigentlich will der Bär nur allein sein, doch dann überlegt er es sich anders, denn „Vorlesen ist ja ganz schön“…

Marc Veerkamp und Jeska Verstegen haben vom Vor- bis zum Nachsatz ein vielschichtiges Bilderbuch komponiert, das mit großformatigen, perspektivreichen Illustrationen und einem knappen, poetischen Text (nicht nur) Kinder verschiedenen Alters anspricht. Das von Rolf Erdorf übersetzte und für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024 nominierte Bilderbuch ermutigt Jung und Alt auf vielerlei Ebenen zum Nachdenken: über Grenzen der eigenen Belastbarkeit, über Feingefühl und Rücksichtnahme, gegenseitiges Geben und Nehmen, über die Kraft der Kunst, hier von Musik und Literatur, und über das Recht auf Erholung und Raum zum Alleinsein.

Jesta Verstegen nutzt schwarze Druckfarbe, mal satt, mal zart und durchscheinend aufgetragen, um auf weißem Papier die verschiedenen Handlungssequenzen, den Wald und seine Bewohner ins Bild zu setzen: mal flächig, mal filigran, mal mit schablonenartigen Aussparungen, immer aber mit dynamischem Schwung. Mit Rot setzt die Künstlerin wirkungsvoll-sparsam leuchtende Farbakzente ins Weiß und Grau (Sonne, Blüten, ein einzelnes Blatt, das Buch des Zebras). Den sich anbahnenden Konflikt gestaltet sie mittels unterschiedlich dicht gefüllter Seiten: die riesige Zuhörermenge der größeren Tiere im engen Kreis um den am Flügel musizierenden Bären, einen Baum voller Vögel, Fledermäuse und anderer kleiner Tiere, die mit einigem Abstand lauschen, ein Schwarm Schmetterlinge, die dem Bären geradezu auf den Pelz rücken und schließlich den Bären, auf der Flucht vor seinen begeisterten Fans. Bei genauerem Betrachten fällt das collagierte Zebra auf, dessen Streifen Textzeilen sind: Zitate aus dem vorliegenden Buch.

Auch grafisch ist das Buch eine Freude, wenn beispielsweise das Anschwellen des Lärms durch die zunehmende Schriftgröße des Wortes MEHR! verdeutlicht wird. Das ganze Getöse endet schließlich im harmonischen Schlussbild: Bär hat sein Rückzugsrecht durchgesetzt. Allein mit Zebra findet er die ersehnte Ruhe, auf einem Hügel sitzend, unter einer weißleuchtenden Abendsonne – oder ist es schon der Mond? Auf jeden Fall steht ein Kaffeegedeck für zwei bereit!

Mit Kindern ab fünf könnten Vor- und Nachsatzpapier vergleichend betrachtet werden: Welche Stimmung strahlen die beiden so unterschiedlichen Bilder aus? Wo würden die Kinder lieber sein und warum?

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