Würde man heute Jugendliche fragen, mit welchen historischen Personen sie einigermaßen verlässliche Informationen verbinden, wäre der Name Mahatma Ghandi vermutlich nicht dabei. Und dennoch ist Ghandi – bei aller Skepsis gegenüber den „Großen“ der Geschichte – einer derjenigen, mit dessen Person, vor allem aber mit dessen Ideen, man sich auch heute noch befassen sollte. Der Berliner Autor Marcel Feige versucht durch einfache, klare Sätze, fiktive Dialoge, anschaulich entwickelte Szenen und relativ unbekannte historische Fotos das Leseinteresse von Jugendlichen zu wecken und aufrecht zu erhalten. Er folgt dem Lebensweg des Mahatma sehr genau und stellt die gesellschaftlichen und politischen Konflikte, in die er eingegriffen hat, konsequent in den Zusammenhang der Kolonialgeschichte. Die Schauplätze sind Südafrika und Indien. Gleichzeitig geht es aber auch um die private Geschichte einer Person, deren Leben nicht ohne Widersprüche und Niederlagen ablief. Diese Widersprüche betrafen zum einen die Familie, wobei der Autor Ghandis Verhältnis zu Frauen und zur eigenen Sexualität kritisch diskutiert, zum anderen aber auch die Politik. Ghandi lehnte grundsätzlich jede Zusammenarbeit mit der englischen Kolonialmacht ab, konnte sich aber mit diesem Grundsatz bei den in Indien neu entstehenden Parteien nicht durchsetzen. Auch der große Plan einer Versöhnung von Moslems und Hindus scheiterte bekanntlich, so dass die Konflikte in und zwischen Indien, Pakistan und Kaschmir bis heute weiterwirken. Feige spannt somit den Bogen von Ghandis Lebenszeit bis in das heutige Indien samt ungelöster sozialer und gesellschaftlicher Probleme. Aber was bleibt dann von Ghandis Lebenskonzept und Kompromisslosigkeit? Hat er Jugendlichen angesichts der gegenwärtigen politischen Weltlage für die eigene Standortbestimmung überhaupt etwas zu sagen? Unbedingt! Die Leitideen Gewaltlosigkeit, Bedürfnislosigkeit und Wahrheitssuche sind nach wie vor eine Provokation in einer Zeit, in der die Medienmeldungen von Krieg, Terroranschlägen und Übernahmekämpfen der kapitalstärksten Weltkonzerne geprägt sind, wenn Flucht- und Naturkatastrophen dominieren.
Eine Diskussion darüber, was denn eigentlich die eigenen Werte seien und wie man selbst leben möchte, wäre eine angemessene Reaktion auf die Lektüre des Buches.
(Der Rote Elefant 34, 2016)