Ein englisches Fischerdorf um 1800: Jahreszeiten und Wetter diktieren das Leben der Bewohner, deren fragile Gemeinschaft durch die Not zusammengehalten wird. Bedrohlich oft umfahren Zöllner die Küste, und die Dörfler fürchten die Launen des grausamen Herzogs von Albany und York. Für „Freidenker“ wie Adam ist darin kein Platz. Adam, Halbwaise, träumt vom Fliegen, rettet „unglücksbringende“ Dohlen, verrichtet lieber Frauenarbeit an Land, als mit Vater und Bruder zu fischen und zu schmuggeln.
Aus der Ich-Perspektive erzählt Adam, wie die „Kluft zwischen (seinen) beiden Welten“ mit der Ankunft eines politischen Flüchtlings unüberbrückbar wird: Der französische Gelehrte Charles hilft Adam dabei, eine Flugmaschine zu bauen und nennt die Dörfler „rückständiges Pack“. Adam vernachlässigt seine Pflichten und auch Shona, die innigste Freundin seit Kindertagen. Gemeinsam träum(t)en sich beide aus der Enge, sehnten sich nach Freiheit. Nun kein Kind mehr, liebt Shona den phantasievollen Adam, doch von Träumen kann man „niemanden ernähren“. So wendet sich Shona Adams Bruder Nelson zu.
Zum Motiv des „Fliegens“ inspirierten die Autorin (laut Nachwort) die realen Forschungsarbeiten von George Cayley, die dieser parallel zur erzählten Zeit aufschrieb. Seine Ergebnisse finden sich ganz konkret in den Flugversuchs-Szenen von Adam und Charles wieder. Der historische Roman „ICH und DU und ER“ (Originaltitel: Over Zee) überzeugt durch atmosphärische Dichte, sowohl in der plastischen Darstellung der Natur und des Dorfalltags als auch in den knappen Figurenzeichnungen. Glaubwürdige, zwiespältige Charaktere werden oft in wenigen Sätzen lebendig. Die zeitlose Dreiecks- und Außenseitergeschichte ist poetisch erzählt und einfühlsam übersetzt. Teilweise besitzt die Sprache fast hypnotischen Charakter („Ich weiß alles vom Wind. Er ist so stark, dass sogar das Meer und die Wolken auf ihn hören müssen, und er schafft es, dass mein Kopf einem verwüsteten Zimmer gleicht, sodass ich nicht mehr klar denken kann.“).
Obwohl historisch verankert, sind zentrale Konflikte auf die Gegenwart übertragbar: Notwendigkeit versus Wunsch, Gemeinwohl versus Egoismus, Tradition versus Fortschritt, Unsicherheit versus Offenheit gegenüber Fremdem, Symbiose versus Freiheit.
(Der Rote Elefant 30, 2012)