Vor einem Jahr starb Pelles Vater an Krebs. Seitdem unterteilt der 12-jährige Einzelgänger die Zeit in VDT (Vor Dem Tod) und NDT (Nach Dem Tod). VDT hatte er zugewandte, aktive Eltern, die seine Besonderheit, Gefühle mittels Faktenketten abzuwehren, verständnisvoll begleiteten. NDT fühlt Pelle sich elternlos. Mama Liesbet raucht exzessiv, scheint ihn kaum zu sehen und absolviert den Alltag ausgesprochen freudlos: Kaputte Sachen bleiben kaputt, Haare ungeschnitten … Doch dann überreicht sie Pelle einen Karton mit nummerierten Briefen des Vaters. Darin finden sich Aufträge, z. B. das Baumhaus im Garten fertig zu bauen oder sich unangenehmen Situationen zu stellen (was dem Vater selbst schwerfiel). So lernen Pelle und Mama z. B. den Insektenspezialisten Jack kennen, der nicht nur eine Rolle beim Baumhausbau spielt. Es kommt zu einer Schlägerei, aber auch einem unerwarteten Kuss. Bereichernd wirken auch vierbeinige Mitbewohner und ein neues altes Familienmitglied. Früher dachte Pelle bei überwältigenden Gefühlen z. B. an Chinesen, die von ihren Toten geliebte Gegenstände (Fernseher, Autos, Parfümflakons) in Papierform als Opfer verbrennen oder an Weberameisen, die ihr fünfzigfaches Körpergewicht tragen können. Jetzt findet er eine Form, sich noch einmal vom Vater zu verabschieden und dabei Stille auszuhalten.
„Briefe an Pelle“ (Originaltitel) erweitert das breite Angebot niederländischer KJL über Tod und Trauer in Familien durch einen lebendigen, vielschichtigen Text, der durch die originelle Erzähldramaturgie und den eigenwilligen Ich-Erzähler überzeugt. Dabei steht der Briefkarton nicht zufällig ein Jahr nach Kremation des Vaters auf dem Tisch. Mit diesem Bucheinstieg spielt die niederländische Autorin, erstmals ins Deutsche übersetzt, auf das tradierte Trauerjahr an und darauf, dass Trauernde danach wieder „leben“ dürfen. Dass Letzteres der Verstorbene selbst initiiert, charakterisiert ihn als souveräne Persönlichkeit und wird die Erinnerung an ihn prägen. In diesem Sinne „schweben“ über den 16 Kapiteln die 16 Aufträge des Vaters in einer Wolkengrafik (s. deutscher Titel). Der Erzählzeitraum erstreckt sich über mehrere Monate, was Lesenden vermittelt, dass selbst nach einem Jahr die Verarbeitung eines Todes prozesshaft verläuft. Am Beispiel Pelles, der über eine scharfe Beobachtungsgabe und analytisches Denken verfügt, aber schwer Zugang zu seinen Gefühlen finden und sich nur zögernd mit anderen verbinden kann, macht die Autorin diesen Prozess sinnfällig.
Zum Einstieg könnte ein Schuhkarton mit Vater-Aufträgen nachgestellt werden. Wer könnte hier an wen schreiben und warum?
(Der Rote Elefant 40, 2022)