In den 90er Jahren zerfiel Jugoslawien aufgrund der europäischen Balkanpolitik. Die Folgen: Bürgerkrieg, Völkermord, Flucht, Vertreibung. Was damals geschah, bildet den Hintergrund des vorliegenden Antikriegsromans. Die „Stadt der Brücken“ erinnert an Mostar, aber was Kordics Helden Viktor geschieht, kann in jedem Kriegsgebiet dieser Welt jedem Kind geschehen. Anlässlich der Umsiedlung eines religiösen Teils der Stadtbewohner auf die andere Flussseite läuft Victor zurück, um dem Vater, einem mutigen Krieger, eine Nachricht zu hinterlassen. Er verliert die Familie und so kommt der von Geburt an verkrüppelte Junge in ein Kloster. Von dort flieht Viktor und schließt sich dem einbeinigen Dschib an. Getreu Dschibs Motto „Wer tot ist, ist tot. Wer lebt, lebt“ sammelt und stiehlt Viktor alles, was zum Überleben taugt. Er gräbt Tote aus, um an deren Kleidung zu kommen. Aber nicht nur deshalb (über)lebt Viktor, sondern weil er sich seines jetzigen und vergangenen Da-Seins durch Erzählen vergewissert und das Erlebte einem imaginierten „Du“ mitteilen muss, denn: „wenn keiner mehr was erzählt, wenn keiner mehr zuhört, ist das die Finsternis“. Dafür nutzt er ein Heft und einen Bleistift. Mehrfach überschreibt Viktor seine Texte mit „Letzter Tag“, aber dieser kommt erst, als das Heft vollgeschrieben ist.
Viktor erzählt nur im Präsens, was das angesprochene „Du“ dazu auffordert, Gegenwärtiges und Erinnertes zu erkennen. Das Ende deutet sich früh an. So wird anfangs eine Möwe beschrieben, die erst über dem Meer wieder auftaucht, zu dem Viktor über die Berge gewandert ist. Der komplexe Erzählfluss entspricht der Traumatisierung des Erzählers. Ist Erlebtes als „Ich“ nicht ertrag- und erzählbar, wechselt Viktor plötzlich in „der Junge“. Dem Leser bieten sich detaillierte Wahrnehmungen, die in Dichte, Präzision und Bildhaftigkeit beklemmend und gleichzeitig magisch wirken. Demgegenüber stehen Episoden, die vermitteln, wie Viktor Erinnerungsstücke Kraft geben (ein Familienfoto, ein versteinertes Holzstück und das Grundig-Radio vom Vater, ein Zauberwürfel) und dass ihm eine besondere Phantasie eigen ist, die ihm ermöglicht, sich „Glück“ in Gemeinschaft zumindest vorzustellen.
Der Jugoslawienkrieg war allabendlich in europäischen Wohnzimmern präsent, woran der Autor, Sohn bosnisch-kroatischer Einwanderer, kritisch erinnert: Westliche Kamerateams interviewen Viktor. Zufällig geht im Hintergrund eine Mine hoch. „Perfekt“, resümiert der Kameramann. Angesichts heutiger Flüchtlingsströme, nicht zuletzt aus dem Balkan, ist es mit abendlichem Nur-Zuschauen endgültig vorbei.
(Der Rote Elefant 33, 2015)