Am 19. April 1944 beginnt Mary die Augen der Amerikaner*innen für den Holocaust zu öffnen. Es ist der 1. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Tausende gedenken in New Yorks Warschauer Synagoge der Opfer und rufen dazu auf, die verbliebenen Juden zu retten. Allen voran gehen die Wattenbergs, Shia und Lea mit ihren Töchtern Mary (Miriam) und Ann. Selbst bis dahin im Warschauer Ghetto lebend, entkam die Familie vier Wochen zuvor der Judenvernichtung in Europa. Da Lea gebürtige Amerikanerin ist, fand die Familie Platz auf einem Schiff, das vom US-Außenministerium angemietet worden war. Mary führte über die Zeit im Ghetto Tagebuch. Von diesen Aufzeichnungen erfährt der Journalist Samuel Shneiderman, sieht ehrfürchtig die winzigen Buchstaben auf den eng beschriebenen Seiten der zwölf Ringbüchlein und versucht, die erfundene Kurzschrift zu entschlüsseln. Gemeinsam mit Mary bereitet er eine Buchausgabe vor. Sie ergänzen die Texte, „um bestimmte Gegebenheiten und Umstände näher zu erläutern, die andernfalls Leser nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt vor Rätsel gestellt hätten.“ Im Februar 1945 erscheint das Buch und wird sofort in 12 Sprachen übersetzt. Erst 75 Jahre später liegt, dank des Orell Füssli Verlages, die deutschsprachige Buchfassung vor. Im Bewusstsein, als Tochter einer amerikanischen Mutter und eines wohlhabenden Kunsthändler-Vaters privilegiert zu sein, selbst im Warschauer Ghetto, beschreibt Mary den Ghetto-Alltag. Sie erzählt vom peinlichen Gerangel um kleine Vorzüge, Wohnraum, Essensrationen oder Schulkurse und fasst in aufwühlende Worte, was sie sieht und hört, entsetzt und ängstigt, bitter macht und wütend: Menschenjagden und Hinrichtungen, erniedrigende und menschenverachtende Behandlung aller Juden durch die SS . Zum Auflehnen gegen diese Hölle gehört, dass Mary und Mitglieder des Jugendklubs Geld, Lebensmittel und Kleider ins nahe Waisenhaus bringen. Eines Tages sieht sie, wie von dort alle Kinder und dessen Leiter Janusz Korczak abgeholt werden. „Mit ihm starb einer der reinsten und edelsten Menschen, die je gelebt haben. Er war der Stolz des Ghettos. Sein Kinderheim machte uns Mut …“ Nach dem Leben im Ghetto kommt die Familie in ein französisches Internierungslager und beginnt im März 1944 die „Reise in die Freiheit“ – Titel des letzten von 18 Kapiteln. Der sorgfältig recherchierte Anhang enthält umfangreiche Anmerkungen, eine Bibliographie zu weiterführenden und zitierten Quellen und eine Zeittafel über die Jahre der deutschen faschistischen Herrschaft. Wahrhaftig und authentisch erzählt, steht Mary Bergs Tagebuch dem der Anne Frank in nichts nach. Das Buch gehört zu den unverzichtbaren Zeugnissen jener Zeit, dem viele Nachauflagen zu wünschen sind. Seiner Editionsgeschichte nachzuspüren, wäre ein lohnenswerter Rechercheauftrag.
(Der Rote Elefant 38, 2020)