„Ich erinnere mich gut an den Tag, als ich geboren wurde. Ich erinnere mich an die Sonne in meinen Augen. Und an den Tau auf meinen Beinen.“ Doch die Freude der kleinen Spinne darüber, auf der Welt zu sein, wird bereits kurz nach dem Schlüpfen durch den Aufruf zur Arbeit getrübt. Das erste Netz ist anscheinend nicht so, wie es sein sollte. Mutter Spinne wird sogleich geraten, das Kind in die Schule des Skarabäus zu bringen, wo es lernen soll, ordentliche Netze zu spinnen. Und so machen sich Tochter und Mutter Spinne auf den Weg durch den Wald. Die Erziehungsanstalt des Herrn Skarabäus befindet sich auf einer Müllhalde. Zu seinen Schüler*innen gehören eine Fliege mit S-Fehler, ein Glühwürmchen mit geringer Leuchtkraft und eine Hummel mit Angststörung. Herr Skarabäus nimmt die Spinne in Empfang: „Du bist hier unter deinesgleichen. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.“ Aber die Hauptbeschäftigung von nun an, heißt: warten. Auf den Skarabäus und seine tägliche Aufgabe, die mit dem Spinnen von Netzen, dem Verbessern der Aussprache oder dem Überwinden von Angst nichts zu tun hat. Doch die kleine Spinne ist nicht bereit, sich mit diesen Routinen abzufinden. Die lebendigen Eindrücke von Natur und Wald, die sie auf dem Weg zum Skarabäus gesammelt hat, sind noch zu präsent, um es in der Hoffnungslosigkeit der Müllkippe auszuhalten. Das kann doch nicht das Leben sein! Und so überredet sie die anderen zu einem „kleinen Ausbruch“, dem französischen Originaltitel „La petite évasion“ entsprechend.
Marzena Sowa lässt die fantasiebegabte und ihre Visionen mitreißend umsetzende Spinne rückblickend vom Aufbruch und der gemeinsamen Reise erzählen. Die comicüblichen Dialoge sind witzig und verleihen jedem Insekt eine eigene Persönlichkeit. Die von Dorothée de Monfreid reduziert und cartoonartig gezeichneten Szenen spielen mit dem Charme des Unperfekten, sind aber hintergründig und vielschichtig, so wie der Text. Trotz der Zuschreibungen von außen wachsen die vier Ausreißer*innen über sich hinaus, ohne es selbst zu merken, und kommen im Alltag und miteinander sehr gut zurecht.
Die Protagonist*innen durchleben nachvollziehbar alle Gefühle rund um Scheitern und Selbstbehauptung, und die der Spinnenmutter angepriesene Schule des Skarabäus entpuppt sich als Karikatur eines Schulsystems, in dem Konformismus belohnt und Visionen unterdrückt werden.
Die kleine Flucht ist ein ermutigendes und humorvolles Buch über das Unangepasstsein: Ein Plädoyer dafür, Erwartungen kritisch zu hinterfragen und voll Selbstvertrauen seinen eigenen Weg zu suchen.
Der Comic eignet sich gut als Vorlage für eine Theaterinszenierung. Nicht nur Erstleser*innen können den Insekten in verteilten Rollen ihre Stimme geben oder weitere Figuren erfinden.
