Mikrokosmos, Da-Sein und Weg-Sein sind mögliche Schlüsselwörter für dieses im wahrsten Sinne des Wortes eigenartige Buch, worin der Begriff „Wahrheit“ im kleinen Alltäglichen und im großen Ganzen umkreist wird. Wo ist Wahrheit zu finden? Im Verstand oder im Herzen?
Minous Geschichte fällt aus Zeit und Raum. Der literarische Topos „Insel“ ist ‒ trotz detaillierter Beschreibung ‒ nirgends verortet, die drei erwachsenen Bewohner (Vater, Priester, Kistenmann) sind Träger verschiedener Lebenshaltungen bzw. philosophischer Anschauungen. Die seit einem Jahr verschwundene Mutter der 12jährigen Ich-Erzählerin Minou vertrat eine vierte: Sie malte sich die inselgraue Welt bunt, stellte Kreativität und Phantasie über alles, träumte sich weg. Zwischen dem Vater, einem erklärten Descartes-Nachfahren, und der sinnenfrohen Mutter sucht Minou ihre Wahrheit. Sie geht mit dem Vater „spazierendenken“ und hält für die Mutter die kleinsten Alltagsbeobachtungen fest, schreibend und zeichnend. Am Anfang des Buches finden Vater und Tochter einen toten Jungen, den sie aufbahren, denn erst in drei Tagen kommt wieder ein Boot, das ihn mitnehmen kann. Der Tod wohnt nun im eigenen Haus. Sein Da-Sein ermöglicht Minou eine Wahrheit zu akzeptieren, die sie bisher verdrängte: den Tod der Mutter. Wahr wird auch: Die Insel bestimmt ihr gegenwärtiges Dasein, einmal wird sie weg sein, dahin gehen, wo die Mutter immer hinwollte.
Die Erzählzeit umfasst drei Tage, verlängert durch Rückblicke in das letzte Jahr seit Verschwinden der Mutter, wiederum erweitert durch weit zurückliegende Familiengeschichte(n). Es entfaltet sich mittels einer sinnbildlich aufgeladenen Sprache ein hermetischer, entschleunigter Erzählraum. Die Autorin arbeitet mit vielen Vergleichen (das Leben auf der Insel glich einer geschlossenen Faust, die Form der Insel einer Katzenzunge, der tote Junge duftet nach Orangen wie die Mutter) und verstärkenden Adjektiven (das lange rote Haar der Mutter, die cremig milchige Schokolade). Sprachlich erscheint dies z. T. überfrachtet, erzeugt jedoch einen bestimmten Sprachrhythmus und im Laufe des Leseprozesses eine Art (rezeptionsstrategisch bewusst angelegten?) Sog. Überdies integriert die Erzählweise viele filmische Mittel, wie Totale und Zoom (zuerst kommt z. B. die Hand des toten Jungen zwischen zwei Felsen ins Blickfeld), auch sind reichlich Symbole vorrätig: ein Tor mit großen Flügeln ohne Zaun; ein Hausdach mit defektem Leuchtturm, eine Flaschenpost, namenlose Tiere …
Im Sinne literarischen Lesens und Urteilens lohnt sich eine intensivere Beschäftigung mit dem artifiziellen Debüt der Dänin, z. B. in Leseclubs. Als Diskussionsgrundlage könnte das Interview mit der Übersetzerin (www.minousgeschichte.de) genutzt werden.
(Der Rote Elefant 31, 2013)