„Das Meer ist eine nicht endende Linie“, sagt die Peruanerin Micaela Chirif im vorliegenden Buch. Auch die tintenblauen Wellenlinien auf dem Cover sind ohne Anfang und Ende. Das Bilderbuch lädt dazu ein, in die Schönheit des Meeres samt Pflanzen und Tieren einzutauchen. Es thematisiert aber auch kindgemäß dessen Gefährdung, verbunden mit Widersprüchen wie Natur/Zivilisation oder Freiheit/Abhängigkeit.
Die reimlosen Texte verdichten auf poetische Weise – fast ohne Satzzeichen – Aussagen bzw. Fragen zu Tieren (Oktopus, Wal, Tiger), Himmel und Meer, aber auch Phantasiewesen, wobei Chirif eine naiv-kindliche Perspektive einnimmt. So heißt es z. B. im Gedicht „Himmel“: „Der Himmel ist lila – Der Himmel ist grau – Der Himmel ist schwarz … Der Himmel ist voller Wolken und Sterne … “. Das Stakkato der Wiederholung rhythmisiert den Text ähnlich Wellen, die ans Ufer branden. So auch in „Fische“: „Die Fische haben kein Gepäck – Die Fische reisen nicht mit dem Flugzeug – nicht mit dem Schiff – nicht mit dem Zug und nicht mit dem Rad …“. Auffällig ist die häufige Verwendung von ‚nicht‘ und ‚kein/e‘, als wären diese Wörter das Meer, auf dessen Schaumkronen die restlichen Wörter tanzen. Inhaltlich kindliche Wahrnehmungen, Erfahrungen und Vergleiche aufnehmend, fordert die Form dazu auf, assoziativ weiterzudenken. Diese Aufforderung setzt sich in den die Texte geradezu umschwimmenden Bildern fort. Als Identifikationsangebot ist auf den ersten und letzten Seiten ein Kind am Meer zu sehen: spielend, träumend, badend, sammelnd. Es ist interpretierbar als Hoffnungsträger, verantwortlich für Zukunft. Die Vielfalt der von dem mexikanischen Künstlertrio benutzten Techniken (Collage, Stempel, Aquarell, Tinte) fügt sich im Buch zu einem ausdrucksstarken Gesamtbild, worin Blautöne und gedeckte Naturfarben vorherrschen. Darin faszinieren kleinteilig genau gezeichnete Fische und Pflanzen ebenso wie großformatig verschwommen gestaltete Ansichten von Himmel und Meer. Obwohl das Meer für Menschen von zentraler Bedeutung ist, scheinen diese nur Wesen unter anderen zu sein. So sieht man den vom Fang abhängigen Fischer im nussschalenartigen Boot oder einen Menschen in einem Boot, gestaltet aus der Schuppe eines sehr viel größeren Fisches. Später ist das Boot leer. Auch das Kind sitzt einmal allein in einem Boot… Aktuelle Flucht-Bezüge liegen nahe.
Vor der Buchvorstellung wären die Sinne gefragt: Muscheln, Meeresrauschen, „frische Brise“, Meersalz, ein Rettungsring. Ist „Meer“ erraten, würden Ideen zu einem Text mit der Anfangszeile „Das Meer ist“ gesammelt, um es mit Chirifs Meer-Gedicht zu vergleichen. Und was ist mit dem Himmel? Nach Buchkenntnis könnte eine Collage entsprechend der Buch-Techniken gestaltet werden.
(Der Rote Elefant 40, 2022)