„Ich bin nicht klein. Ich bin nicht groß. Was bin ich denn?“ Lulu hat ein Problem. Während ihr großer Bruder Kasper vieles schon und ihre kleine „süße“ Schwester Leonor noch darf, fühlt sie sich als „mittleres“ Kind ungerecht behandelt und unbeachtet, denn für ihr Papierschnipsel-Talent interessiert sich niemand. Den Geschwistern lassen die Eltern alles durchgehen, während Lulu ermahnt wird, wenn sie einen richtigen Teller wie der Bruder haben will oder wie die Schwester den Becher umwirft. Bis Lulu eines Abends verzweifelt in Tränen ausbricht …

In Micha Friemels und Jacky Gleichs Bilderbuch kämpft ein kleines Mädchen um seinen Platz in der Familie. Lulu besteht darauf, auch mal im Mittelpunkt zu stehen, wünscht sich Gleichbehandlung und versucht, zwischen Eltern und Kindern zu vermitteln. Gleich drei Dinge auf einmal, die sich im Alltag der Familie nur schwer realisieren lassen. Text- und Bild-Ebene sind dabei gekonnt miteinander verschränkt. Während der Text Lulus Wahrnehmungen in kurzen knappen Sätzen beschreibt, zeigen die Illustrationen das, was Lulu nicht sieht: die von Kaspars Eskapaden oder Leonors Geschrei genervten Eltern-Gesichter, die  zärtlichen Blicke der Mutter, wenn Lulu ihr Papier schnipselt und das Interesse des Bruders, wenn sie Konfetti wirft und Pirouetten dreht.

Autorin und  Illustratorin gelingt die realistische Darstellung einer sehr angespannten Familiensituation, wenn Lulu z. B. die kleine Schwester haut oder die Eltern völlig übermüdet Lulus Aufmerksamkeitsbedürfnis befriedigen. Dabei werden nicht nur die Befindlichkeiten des „Sandwichkindes“ in den Fokus genommen, sondern auch die Zwiespälte der Eltern kommen ins Bild. Die Reduktion auf zwei Farben (Dunkelgrün und helles Rotbraun) unterstreicht, dass es sich hier nicht um ein stets kunterbunt-heiles Familienleben handelt. Gleichs staksige, strichmännchenartige Figuren wirken dennoch lustig und sympathisch, was den durchaus ernsten Szenen eine gewisse Situationskomik verleiht.

Genannt seien hier Leonors Aktivitäten, während der Vater kocht, Lulus  „unauffälliges“ Verhalten nach dem „tätlichen“ Angriff auf die Schwester oder die übermüdete Mutter, die versucht sich und den Vater mit Kaffee wach zu halten, um sich Lulu widmen zu können. Auch sollte der Familienhund im Auge behalten werden!

Das Buch bietet reichlich Anlass, um über Erfahrungen mit Geschwistern zu sprechen, seien es größere, kleinere oder beides zusammen. Das Nachspielen eigener oder im Buch gezeigter Konfliktsituationen könnte über entsprechende Rollenwechsel Sensibilität für jedes Familienmitglied entwickeln helfen.

(Der Rote Elefant 38, 2020)