Was verbindet die Hydra mit Bürokratie? Was Medea mit mangelnder Gleichberechtigung? Vorliegende Anthologie, die erste ihrer Art im deutschsprachigen Raum, präsentiert 21 Poetry Slams (7 mit Audiolink), in denen meist junge Bühnenpoet*innen das Potential griechischer (Helden)Mythen für Gesellschaftskritik, Polit-Satire und individuelle Dramen nutzen: zornig, zynisch, humorvoll. Sebastian, 23, thematisiert z. B. Meinungsmanipulation: „Wir feilen den Fakten die scharfen Eckzähne // Doch zwischen den Zeilen, da schlafen Extreme // Das Fazit, bevor ich dramatischer werde // Die Schönfärberei birgt trojanische Pferde …“. Jan Möbus‘ Sisyfässchen macht aus seinem Alkoholismus „Performancekunst“: Das Bier trinkt er erst, nachdem er das Fass einen Parkhügel hinaufgerollt hat, also „afterwork“ …
Für den Poetry-Slam-Vizemeister Nik Salsflausen (Hrsg.) und Lehrer für Deutsch und Geschichte offenbaren griechische Mythen zeitlos „Grundzüge menschlicher Existenz“. Im Einführungsessay geht er davon aus, dass eine gelungene (Poetry Slam-)Performance Autorenintention bzw. -interpretation und Publikumspartizipation bzw. -rezeption spannungsreich zusammenführe. Mythische Begriffe könnten assoziativ wirken, einen möglichen Konsens herstellen und „Wirren der Moderne gedanklich entheddern“. So auch im Text über die im Zoo beheimatete Tintenfischdame Kassandra: Diese „Sieht den Wandel unsres Klimas, // prophezeit gar Griechenland, // sieht das Los von Fukushima, // AfD und Donald Trump.“
Zwar kommen die Botschaften auch ohne Mythenwissen an, aber als lustvolle Rezeptionsverstärker wirken die den Reim- oder Prosa-Slams vorangestellten kompetenten Figuren-Steckbriefe samt Comicillustrationen mit Sicherheit. Der Leser weiß nun: Ein Verehrer „schenkte ihr [Kassandra] die Gabe der Hellseherei. Sie fand zu Recht, das verpflichte sie zu gar nichts“. Der Verschmähte rächte sich mit einem Fluch: Kassandras Prophezeiungen blieben ungehört. Leerstellen in den Steckbriefen ermuntern zum Weiterforschen: Wer z. B. ist Klytaimnestra? Eine Antagonistin der Tintenfischdame Kassandra („Faulheit ist der Tod der Wahrheit, // Dummheit Klytaimnestras Dolch.“)? Nicht zufällig schlägt der Herausgeber in literarischen Querverweisen eine Brücke zwischen antiken Theaterwettstreiten, wo die großen Tragöden (Aischylos, Sophokles, Euripides) um die Gunst des Publikums warben, und den heutigen Performern, die desgleichen tun. Zur Nachahmung in Schule oder Jugendtheatergruppen empfohlen: mit hier vorgestellten Texten oder mit eigenen Poetry-Slams zu noch nicht „bearbeiteten“ griechischen Helden und Heldinnen.
(Der Rote Elefant 36, 2018)