„Einmal ist Papa mit mir alleine in den Ferien ans Meer gefahren“. Die Doppelseite zeigt: Vaters winkende Hand, das Gesicht der Mutter verdeckt, der Säugling im Arm abgewandt, die Brüder schwarze Risse hinter der Gardine. Letzte Doppelseite: die kleinen Brüder springen dem Auto freudig entgegen, Gisela winkt zur Begrüßung. Ihr Kommentar: „Ich glaube, das waren meine schönsten Ferien.“ Warum? Es passiert wenig. Am Reiseziel muss man Vater und Tochter im Restaurant inmitten anderer Gäste fast suchen, auf schwimmender Badeinsel liegen beide winzig verloren im blassgraugrünblauen Meer. Nahe kommen die beiden dem Betrachter erst im schlichten Hotelzimmer. „Vor dem Schlafengehen hat mir Papa die ganze Woche lang eine Geschichte erzählt, die hieß ‚Königin Gisela’…“ Papa erzählt – reduziert lakonisch – von einem gestrandeten, reichen Mädchen, das sich die Inselbewohner, naive Erdmännchen, autoritär unterwirft. Diese tun alles für Gisela, lange. Als diese jedoch zum Krönungsfest einen Erdmännchenfellbikini fordert, wird sie auf einem genial konstruierten Thron-Floß ins Meer ausgesetzt. Als Bildzitat steht am Horizont der gleiche Felsen wie in der Realhandlung, auch die Farbwahl korrespondiert. Welche Bezüge bestehen zwischen Rahmen- und Binnengeschichte? Königin Gisela hätte den zunehmenden Widerstand merken können, wird aber Opfer ihrer eigenen Machtfixiertheit. Alles, was auf der phantastischen Insel geschieht, spielt auf ironische Weise mit Überlieferungen aus der Kolonialgeschichte, karikiert aber auch Erscheinungen des modernen Massentourismus: Palmwedeln, Verköstigung, Animation. Heidelbach gestaltet im Gegensatz zu den weiten künstlich-kühlen Bildräumen der Rahmenhandlung die Robinsonade als farbenfrohe, abwechslungsreiche Bildgeschichte. Gisela und Königin Gisela sehen sich nicht ähnlich. Bestehen Wesensverwandtschaften? Wie war das Verhältnis der pubertierenden Schwester zu den vier kleinen Geschwistern? Im Text kommentiert die zuhörende Gisela: „Das ist aber gemein“ oder „Da ist doch was faul.“ Der Vater erzählt, was er zu erzählen hat. Warum Gisela diese Ferien als ihre schönsten bezeichnet, fordert das ganze Interpretationsvermögen des Lesers bzw. Betrachters.
In Heidelbachs außergewöhnlichem Bilderbuch überlagern sich eine psychologische Familiengeschichte und eine Beispielgeschichte über Unterwerfung. Ob im Mikrokosmos Familie oder in Gemeinwesen größerer sozialer Ordnungen, häufig sind Rivalität und Omnipotenzphantasien für das Scheitern von Beziehungen verantwortlich. Die Kunst des Weglassens in Wort und Bild und Heidelbachs anspielungsreicher Umgang mit weltliterarischen Mustern (Gulliver, Inselmotiv, Hase und Igel, Vom Fischer und seiner Frau) bieten eine Fülle von Gesprächsanlässen, die von ganz unmittelbaren kindlichen Erfahrungen ins Wesen des Menschen weisen.
(Der Rote Elefant 24, 2006)