Manchmal verschlägt es einem die Sprache, fehlen die Worte – man ist buchstäblich sprachlos. Der französische Bilderbuchkünstler Olivier Tallec weiß sich zu helfen und nutzt sein großartiges Zeichentalent, um mit wortloser Grafik diese Geschichte(n) zu erzählen – von einem Blauen und einem Orangenen, die erst nach zahlreichen Missverständnissen zusammen finden – von zwei Männern, die sich nach unsinnigem Streit in die Arme fallen – von zwei Soldaten, die nach bedrohlichen Auseinandersetzungen, Frieden schließen oder von Zweien, die … Tallec eröffnet mit seiner künstlerisch überzeugenden Geschichte Interpretationsräume für viele Altersgruppen. Je nach Lebenserfahrung wird die Rollenzuschreibung für seine Protagonisten individuell verschieden ausfallen. Die Wahl des deutschen Verlages für den gänzlich anderen deutschen Titel ist ein Beleg dafür. Für den anspielungsreichen Originaltitel „Waterloo & Trafalgar“ nutzt Tallec die Namen von zwei der berühmtesten französischen Niederlagen in den Napoleonischen Kriegen und verleiht sie einem Paar untersetzter feindlicher Soldaten mit identischen übergroßen Helmen. Waterloo ist blau gefärbt und hat einen Schnurrbart. Trafalgar erscheint orange und glatt rasiert. Sie spionieren einander aus bei Tag und Nacht, durch Frühling, Sommer, Herbst und Winter – immer im Kampf gegen Trübsal und Langeweile. Eine Schnecke wird zum Aufreger, weil der Orangene sie zur Abwechslung gern bei sich behielte und nun wehmütig davonziehen sieht, rüber zum Blauen. Der kickt zum Verdruss des Blauen das leere Gehäuse zurück, hat das Tier gekillt, gegrillt und vertilgt! Da beginnt ein von Wut getragener erbitterter Kampf, der erst sein Ende findet, als ein Vogel – wieder ein Tier! – beide zusammenführt. Im Schlussbild gestattet uns Tallec einen Über- und Einblick in die Örtlichkeit des Geschehens und provoziert die Worte: Würden wir nur öfter über unseren (Teller)Rand hinaussehen!!! Kunstvoll gestaltet Tallec die Männchen mit Bleistiftlinien und verleiht ihnen mit geballten Fäustchen, hochgezogenen Augenbrauen oder aufgerissenen Mündern Charakter. Seine Farben wählt der Künstler bewusst. Liegen doch Blau und Orange als Komplementärfarben im Farbkreis einander gegenüber und weisen damit die größte Verschiedenheit auf. Tallec nutzt deren Leuchtkraft und steigert sie für die zweifarbige Gestaltung des Frieden bringenden Vogels. Im Pappeinband imaginieren zwei kreisrunde Stanzungen den Blick durch ein Fernrohr. Die Seiten, auf denen der Kampf tobt, sind eingeschnitten und können halb- oder viertelseitig umgeblättert werden. Das steigert die temporeichen Bewegungsabläufe bis zum Höhepunkt. Jede Seite regt das Erzählen an, befördert das Denken und Sprechen bei Groß und Klein. Ein Bilderbuch, das Bände spricht.
(Der Rote Elefant 32, 2014)