Darwin hätte sich wahrscheinlich gewundert, hätte er gewusst, dass sich ein Maulwurf für seine Untersuchungen zur Natur der Regenwürmer interessieren würde. Aber Regenwürmer sind nun mal die Lieblingsspeise des „Little Gentleman“ (Originaltitel), der sich neben naturwissenschaftlichen und historischen Texten auch gern Gedichte von Alfred Lord Tennyson vorlesen lässt. Vorleserin und Gesprächspartnerin des menschenähnlichen Tieres ist Bess, die Enkelin von Mr. Franklins Zugehfrau. Sie ist es auch, welcher der Maulwurf seine abenteuerliche Biografie anvertraut, worin er unglücklicherweise für ein Ereignis in der englischen Geschichte verantwortlich ist: William III. soll 1702 an den Folgen eines Unfalls gestorben sein, weil sein Pferd in einen Maulwurfshügel getreten sei. Dieses Ereignis bewirkte, dass der Maulwurf nach Schottland verschleppt, durch ein Hexengebräu zur Unsterblichkeit verdammt und der menschlichen Sprache mächtig wurde. Nun hat er sich über die Jahrhunderte bis in die Nähe von London, unweit von Mr. Franklins Cottage, zurückgegraben. Aber er will weiter: nach Hampton Court, seinem Geburtsort. Dort will er wieder „ganz Maulwurf und nichts als ein Maulwurf“ sein und endlich sterben können.
Philippa Pearces kurzweilige, z. T. leicht hintergründig-komische Erzählung wurzelt in der Tradition phantastischer englischer Kinderliteratur und erinnert an Geschichten von Beatrix Potter oder Lewis Carroll. Auch Bess „schrumpft“ und „dehnt“ sich, aber anders als Alice will Bess bewusst den Lebens-raum ihres Freundes kennen- und verstehen lernen. Pearce baut auf Leser, die ein Gespür für magische Welten haben, worin alle Lebewesen eine Einheit bilden und miteinander kommunizieren können. Sie lässt sie teilhaben an einem Gespräch über Mensch und Natur, über Wissen, das aus Büchern oder aus Erfahrung stammt und gelegentlich auch aktuell-politische Fragen berührt, wie den Nationalismus, den der Maulwurf nur verachten kann: „Mein Heimatland ist die Erde.“ Besonders feinfühlig beschreibt Pearce die Beziehung der ungleichen Freunde, das langsame Wachsen von Achtung und Vertrauen, das letztlich Trennung bedeuten muss. Patrick Bensons schwarz-weiße, Ruhe ausstrahlende Vignetten (Feder und Tusche) nehmen die Botschaft des Textes atmosphärisch auf, indem „Natur“, „Beziehung“, „Bücher“ und „(Vor-)Lesen“ zentral im Bild erscheinen. Bess‘ Bemühungen um ausdrucksstarkes Vorlesen könnte ein guter Einstiegstext zum Neugierigmachen auf das Buch sein. Für wen tut sie das?
(Der Rote Elefant 32, 2014)