Pija Lindenbaum mag starke Mädchen. Ihr Bilderbuchdebüt 1991 Else-Marie und die kleinen Papas und die Franziska-Bücher zeugen davon. Auch Heldin Mia wird sich letztlich als stark erweisen, obwohl es zunächst nicht so scheint. Anfangs erfüllt sich Mias Traum: sie darf bei ihrer neuen, besten, tollsten Freundin übernachten. Aber: Isst eine beste Freundin leckeres Eis allein? Lässt eine beste Freundin die andere auf der Erde schlafen und knipst einfach das Licht aus? Mia möchte vielleicht doch nicht hier sein. Schon auf der zweiten Doppelseite blickt sie misstrauisch in eine braun-gelb-lila getönte Korridorflucht. Der Kopf steckt zwischen den Schultern, der Oberkörper biegt sich nach hinten … Die Erwartungen der Freundinnen an die gemeinsame Nacht sind hoch, zu hoch. Zu fremd ist Mia der andere Ort: es riecht und schmeckt so anders … Und Cerisia? Sie bestimmt, was passiert, denn Cerisia ist hier zu Hause! Die Mädchen wirken enttäuscht, lächeln selten und wenn doch, dann nicht miteinander. Doch Mia hält durch, trotz alptraumartiger Gestalten, tanzender Möbel, rumorender Tiere. Die Nachtexpedition mündet im Spülschrank, wo es für beide vielleicht doch noch ganz schön wird.
Lindenbaum übersetzt das verbal knapp Formulierte in eine ausdrucksstark-schräge Bild-sprache. Die grellen Farben sind dissonant gegeneinandergesetzt, die Größenunterschiede zwischen Erwachsenen, Gegenständen und Mädchen extrem überzogen, so dass die Kinder (fast) verschwinden. Überdies streben Personen, Dinge, Wände und Mia häufig voneinander weg. Lindenbaum schickt ihre Mia in angstbesetzte Situationen, aber diese geht gestärkt daraus hervor. Das belegen auch Mias Reaktionen während ihres Nachtausfluges. Ihr Re-sümee lautet jedenfalls: „Jetzt habe ich woanders übernachtet. So supertoll war es nicht.“ Trotzdem hat sie es geschafft! Aber geistert Mia wirklich allein durch die riesige Wohnung oder ist alles nur Traum? Reales und Surreales mischen sich für Figuren und Betrachter.
Das Alter der Protagonisten ist nicht genau festzulegen, deshalb eignet sich Lindenbaums Nacht-Geschichte ausgezeichnet für eine Lese-Nacht. Die Geschichte könnte anfangs aus-schließlich anhand der Bilder zusammengesetzt werden, um sie dann aus verschiedenen Perspektiven erzählen zu lassen: aus Mias und aus Cerisias. Und dabei wären die Betrachter bzw. Lesenachtgäste mitten drin in Ängsten bzw. deren Bewältigungen.
(Der Rote Elefant 29, 2011)