„In ihrem Herzen aber wusste sie, dass sie gleich genau das finden würde, was sie die ganze Zeit gesucht hatte.“ Die 10-jährige Nina findet auf dem Flohmarkt Widu, die „klügste Puppe der Welt“. Widu hat magische Fähigkeiten. Sie kann lesen, riechen und hören, mit Menschen, Tieren und Kuscheltieren sprechen, Fußflöte spielen – und das Wichtigste: Sie saugt die Angst aus dem Herzen, was besonders bei Zahnarztbesuchen und Alpträumen von Vorteil ist. Zudem erfährt Nina von Widu viel über die Welt der Puppen, die nicht altern und kein Herz haben. Gemeinsam erfinden sie Spiele und Zungenbrecher, erzählen sich Geschichten unterschiedlichster Formen (Märchen, Fabeln, Lehrstücke) und wehren sich gegen einen aufdringlichen Jungen. Dabei versucht Widu sich immer wieder vorzustellen, wie es wäre, ein menschliches Herz zu haben, mit dem sie lieben und mitleiden oder sich ganz und gar einem Spiel hingeben könnte; doch dies hieße das Ende ihres Puppenwesens … In kurzen Kapiteln, deren Überschriften das jeweilige Thema bereits ansprechen, erzählt der syrische Autor Rafik Schami die Geschichte einer Freundschaft zwischen der fantasievollen, schüchternen Nina und ihrer weisen, zuweilen besserwisserischen Puppe Widu. „Widu“ meint zum einen deren Sehnsucht wi(e)du, ein Mensch mit Herz, zu sein. Zum anderen klingt in Widu Voodoo an, was auf die entsprechenden Puppen als Schutz-, aber auch Fluchgeister anspielt. Auch der Fundort „Flohmarkt“ ist mehrdeutig. Kann der Erwachsene das Kind in sich nicht bewahren, entsorgt er die Gefährten der Kindheit. In diesem Sinne muss eine Puppe „herzlos“ sein, um auszuhalten, ständig neu benutzt zu werden.
Ausgehend von kleinen Alltagsepisoden weitet Schami – dialogisch vermittelt – Themen wie Kindsein und Erwachsenwerden, Freundschaft, Liebe und Tod ins Philosophische und lässt durch Auseinandersetzungen seine Protagonistin reifen. Die einfachen, klaren Sätze eignen sich gut zum Vorlesen und eröffnen auch leseunerfahrenen Kindern einen guten Zugang, zumal Einzeltexte (s. o.) unabhängig vom Gesamttext genutzt werden können. Der z. T. onkelhaft anmutende Erzählton, wurzelnd in der didaktischen Funktion orientalischen Erzählens, wird durch die bildhaft-poetische Sprache ausgeglichen. Zum Einstieg in die „Flohmarkt-Episode“ könnten Kinder ihre Lieblingspuppe oder ihr Lieblingskuscheltier zeichnen. Was kann dieses Spielzeug? Wie spricht es? In welchen Situationen steht es den Kindern bei? Eine Art Interviewsituation erfragt diese sehr persönlichen Beziehungen. Dann zerknüllt der Interviewer demonstrativ die „Lieblinge“ und wirft sie in einem Papierkorb …
(Der Rote Elefant 30, 2012)