Sinnstiftende Gesellschaftskritik braucht weder Antagonisten noch ein tragisches Ende. So vermittelt es jedenfalls das vorliegende Newbery Honor Buch von 1965, das hier in einer Neuübersetzung vorliegt. Aus Liebe zieht eine Meerjungfrau zu einem einsamen Jäger. Nachdem beide ein Bär- und ein Luchsjunges adoptiert haben, wird die „Familie“ durch ein Menschenkind vervollständigt, das Bär und Luchs nach einem Sturm finden. Der Junge erlernt im Gegensatz zum „Vater“ mühelos die Sprachen der Meereswesen und schwimmt wie ein Fisch. Seine wahre Herkunft hält er für eine Mär, bis auch die „Eltern“ bestätigen, er sei immer bei ihnen gewesen.
Schon der Titel besagt, dass die Protagonisten – Tiere wie Menschen – einer „Familie“ angehören. All ihre Mitglieder sind symbolisch positiv besetzt: Der tugendhafte Jäger, die lebensfrohe Meerjungfrau, der tolpatschige Bär, der edle Luchs, das unschuldige Kind. Sie leben entsprechend ihrem Naturell und trotzdem miteinander. Jäger und Meerjungfrau finden als Paar ohne religiösen (bzw. staatlichen) „Segen“ Erfüllung. Sie lernen voneinander, füreinander und für ihre „Kinder“; dabei integrieren sie das jeweils Fremde. So ist die Meerjungfrau fasziniert vom Feuer, von Beinen, Blumen oder dem Jäger als „einzig bekleidete(m) Ding in einer nackten Welt“. Mit ihrem unbeschwerten Lachen, z. B. über ihre Unbeholfenheit an Land, steckt sie den Jäger an, sodass dieser seine Eigenheiten und Weltsichten hinterfragt. Verständnis und Hingabe des Jägers wiederum erwecken die Anima der Meerjungfrau. Sie erfährt Sehnsucht, Liebe und versteht, warum der „Sohn“ Kleider braucht. Für diesen ist die unge-wöhnliche Familie sowieso selbstverständlich. Ob er später an Land, im Wasser oder wo auch immer leben wird, bleibt entsprechend der Botschaft des poetisch dichten und humorvollen Textes offen … Die sieben Kapitel dieser paradiesähnlich angelegten Zivilisationsutopie lassen sich sehr gut einzeln vorlesen und werden je durch eine Schwarzweißillustration des legendären Maurice Sendak eingeleitet. Dabei zeigen die schattenreich-geheimnisvollen und dennoch realistischen Bilder nur den Lebensraum oder Fundort eines Familienmitgliedes. Die Figuren sind nicht illustriert. Auch diese Leerstelle nebst der breiten Seitenränder um den mittig gesetzten Text schafft (Frei-)Räume zum Nachdenken: etwa über das Leben im Einklang mit der Natur, das Glück und das Miteinander – ob nun in einer (Familien-)Gemeinschaft oder global. Randall Jarrell, als Lyriker, Essayist und Novellist in den USA hochverehrt, arbeitete über Walt Whitman und übersetzte die Grimms. Er debütierte mit Antikriegsgedichten, so dass auch seine „Tierfamilie“ dahingehend gelesen werden kann. Wie zeitlos seine Botschaft sein würde, konnte der im Veröffentlichungsjahr des Buches verstorbene Autor nicht ahnen.
(Der Rote Elefant 32, 2014)