Wilson Bentley lebte Ende des 19. Jahrhunderts mit Eltern und Bruder auf einer Farm in Vermont im Norden der USA. Das biografisch und philosophisch angelegte Bilderbuch erzählt vom Kind Wilson, das offenbar einen besonderen Blick für seine (Um)Welt hat(te). Wilson beobachtet sehr genau und entdeckt dabei Faszinierendes. Flattert ihm ein Ulmenblatt auf die Nase, findet er die Konturen des Baumes in der Form des Blattes wieder oder der morgendliche Haferbrei erscheint als Berg, auf dem ein Pfad zwischen Bäume führt. Als Wilson eines Morgens eine Schneeflocke auf seinem Schuh betrachtet, stellt er sich eine sein weiteres Leben bestimmende Frage: Wie kann man Schneeflocken bewahren und in ihren Details untersuchen? Anfangs für den Vater nur ein Träumer, schenken die Eltern dem Sohn zum Geburtstag ein ausrangiertes Mikroskop und eine alte Kamera. Mit Hilfe dieser Geräte entwickelt Wilson eine Systematik der Schneekristalle.
Linda Wolfsgruber, nominiert für die Hans-Christian-Andersen-Medaille, schöpft auch hier aus einem Fundus künstlerischer Techniken und beweist ihre Experimentierfreude. Sie collagiert, druckt Silhouetten ein, die sie vorher fein ausgeschnitten hat und zeichnet mit Tuschfeder und Tempera in die Bilder hinein. Schon auf dem Vorsatz setzt Wolfsgruber Wilsons Entdeckung „No two snowflakes are the same“ mit unzähligen, filigranen Kristallen auf blauem Grund faszinierend ins Bild. So stimmt sie atmosphärisch auf das Buch ein, das sich gestalterisch durch eine klassische Text-Bild-Trennung auszeichnet, wobei letztere die meditative Wirkung der Bilder entscheidend stützt. Links erzählt Robert Schneider als Beobachter (z. T. etwas langatmig) über das Kind Wilson, rechts erweitern, überhöhen bzw. verfremden ganzseitige Illustrationen in winterlich anmutenden Weiß-, Blau-, Grau- und Schwarztönen die Geschichte, wobei schneeweiße und blaue Monotypien Gefühle des Helden wie Einsamkeit, Unverstandensein, aber auch Entdeckerfreude nachempfindbar machen.
Bereits der Titel wirkt inspirierend: Wie kann man Schneeflocken sammeln? Weiterführend ließen sich die ausdrucksstarken Bilder leicht vergrößern und als Erzählanlass zur Lebensgeschichte des Farmers, Fotografen und Schneeforschers nutzen. Die einfachen Techniken wiederum laden zum Ausprobieren ein: Drucken mit Blättern, Ausschneiden von Schneekristallen oder anderen Silhouetten, Zeichnen mit Feder … und alles kombiniert als Collage.
(Der Rote Elefant 39, 2021)