Schon der Bucheinband mit dem Titel „Geschwister“ auf Vorder- und Rückseite sorgt für Irritation. Auf der beige-gelben Coverseite sagt ein missmutiger kleiner Junge mittels Sprechblase „Meine Schwester ist ein Nashorn.“ Das neben ihm lesende größere Mädchen ziert ein Nashornkopf. Auf Hellgrün dagegen formuliert ein Mädchen mit Strichmund „Mein Bruder ist ein Affe“, wobei sie einen kaktusgießenden Jungen mit Affenkopf im Blick hat. Leser- bzw. Betrachter*innen müssen entscheiden, wem sie zuerst folgen. Aus Sicht des Bruders ist die Schwester ein langweiliges Nashorn, das ständig im Ballettröckchen posiert, ihn einschränkt, nicht kapiert, wie gut er als Friseur ist, aber auch leckere Kuchen backen und das Fahrrad reparieren kann. Aus Perspektive der Schwester muss diese den affigen Bruder ständig mitnehmen, auch zu den Freundinnen. Er massakriert ihre Barbies, schneidet blöde Fratzen auf Fotos, reizt sie aber auch oft zum Lachen und erfindet phantasievolle (Wolken)Geschichten. Kurz vor Buchmitte resümieren Bruder und Schwester: „Im Grunde ist es gar nicht so
schlecht, zu zweit zu sein.“ An diesem Punkt nähern sich beide von verschiedenen Seiten einer halbgeöffneten Zimmertür, woraus ein Lichtschein fällt und Geschrei ertönt: Babygeschrei! Beider Kommentar: „Aber … Drei?“
Die aus Barcelona stammende Kinderbuchautorin und Illustratorin Rocio Bonilla nutzt für ihre Zwei-Perspektiven-Geschichte die Form des Drehbilderbuches und fügt an deren Schnittstelle eine unerwartete Wendung ein. Die entsprechend überraschende und gestalterisch originelle Doppelseite zeigt rechts und links zwei seitenverkehrte, fast gleich große „Kinds“köpfe. Entsetzte Augen starren das Baby an, das mit schwarzem, aufgerissenem Mund, darin eine rote Zunge, ungehemmt brüllt. Eingekreist wird das Neugeborene von handgeschriebenen, schwarzen Groß- und Kleinbuchstaben (B U a, ä … A … ), so dass dessen Gebrüll Seite und Situation dominiert. Insgesamt überzeugt das Bilderbuch durch eine differenzierte Text-Bild-Beziehung. Kommen die spontan-kindgemäßen Ich-Aussagen oder Kommentare eher grob daher, so wenden die moderat farbig aquarellierten Bilder, darunter comicartige Bildfolgen, diese Aussagen ins Liebevoll-Komische. Das kreative Chaos im Kinderzimmer, die Nacht-Doppelseite mit großem (Katzen)Schattenmonster an der Wand und friedlich schlafendem Bruder, weil „Nashorn“ wacht, kündet von einer intakten Geschwisterbeziehung, worin trotz Streit eigentlich alles „stimmt“: Lachend sitzen sie zwischen Essensresten im Versteck unterm Tisch und schaufeln Sahne in den Mund. Das „Neue“ hat Glück mit den beiden … Zum Bucheinstieg könnten mittels Figurenkarten eine Bruder- und eine Schwestergruppe gebildet werden. Jede Gruppe erhält Bildseiten, worin sich Ereignisse aus der jeweiligen Perspektive widersprechend spiegeln. Wer hat Recht? Und welche Erfahrungen haben die Kinder mit Geschwistern?
(Der Rote Elefant 37, 2019)