„Ein neuer Tag beginnt. Ich öffne die Augen und sehe. Es gibt so viel Interessantes zu entdecken!“ Im gepunkteten Kleid begibt sich die Protagonistin zum Sehtest. Kurz darauf ist sie mit Brille zu sehen – und staunt über die zahlreichen Farbtöne, die sie unterscheiden kann. „Meine Augen sind ein empfindlicher und komplizierter Mechanismus. Sie nehmen winzig kleine Details wahr und zeigen mir das Bild von der großen weiten Welt.“ Doch wie ist es, diese aus einer anderen Perspektive zu betrachten? Oder zu entdecken, dass es Unsichtbares, Verzerrtes, Täuschendes gibt? Wie können Menschen sehen, wenn sie dies nicht mit ihren Augen tun? Was verrät das Spiegelbild über den Betrachtenden, was nicht?
Dieses Buch reizt Augen und Verstand! Es lädt dazu ein, sich mit vielfältigen Aspekten des Sehens auseinanderzusetzen – in Physiologie, Neurologie, Physik, Philosophie, Geschichte, Zoologie oder Bildender Kunst. Siebdruckartige Illustrationen in (Neon)Orange, Gelb, Blau, Grünbraun füllen die fast quadratischen, großformatigen Seiten. Hinzu kommen zum Nachdenken anregende Wahrnehmungen und Überlegungen der neugierigen und reflektierten Protagonistin sowie – in die Bilder eingebettet – knappe Sachinformationen. Zu erfahren ist u. a. wovon die Augenfarbe abhängt, was Auge und Fingerabdruck gemeinsam haben, welche Bedeutung „Sehen“ für die Kommunikation hat, welche Sehhilfen und optischen Geräte Großes, Kleines, Nahes und Fernes (besser) sichtbar machen. Auf einer Doppelseite zu optischen Täuschungen wird rechts u. a. auf die Op-Art verwiesen und das Vexierbild „Ente oder Hase“ (1892) abgebildet, während sich links spiralartige grafische Formen des japanischen Psychologen Kitaoka scheinbar bewegen. So wird Information zu Anschauung, zum Erlebnis.
Das ukrainische Künstlerpaar vermittelt mit seinem durchkomponierten, assoziationsreichen, abwechslungsreich gestalteten Buch Fakten und Wahrnehmungsmöglichkeiten, Wissen und Ästhetik. Die Form „Rund“ durchzieht das ganze Buch – beginnend mit einer Pupille auf dem Vorsatz, über ein O auf der Sehtesttafel bis hin zu Knöpfen, Piktogrammen, Sonne und Mond. Ein (seh)sinnliches Buch, Hingucker und Augenschmaus! Schade, dass die Brailleschrift nur auf dem Einband zu ertasten ist und manche Schriftgröße selbst zum Sehtest wird.
Der Nachsatz enthält u. a. eine zur weitergehenden Beschäftigung anregende Liste „Was man gesehen haben sollte“. Als Einstieg in eine Veranstaltung kann an Erfahrungen und Erinnerungen der Teilnehmer*innen angeknüpft werden. Auf Zetteln notieren diese etwas, das man unbedingt einmal gesehen haben sollte.
(Der Rote Elefant 39, 2021)