Das Leben der 11-jährigen Aurora, Kosename Rory, gerät vor den Sommerferien aus den Fugen. Heidi, die vor Rorys Geburt bei deren Eltern in der US-amerikanischen Kleinstadt Liberty lebte und nun erwachsen und schwanger ist, kündigt einen Besuch an. Obwohl Rory die Ziehtochter nie gesehen hat, kennt sie die Geschichten um die offenbar mit „Glück gesegnete“ Heidi „in- und auswendig“. Nun fürchtet Rory, Heidi würde sie wegen ihrer Ticks ablehnen und sie könne die Liebe der Mutter verlieren. Gegen diesen Stress helfen nur ständiges Dreimal-an-die-Nase-tippen oder In-die-Wange-beißen. Die Familiensituation eskaliert, als das Haus plötzlich brennt und die Mutter Rory als Brandstifterin verdächtigt. Schlimmer noch: Im Brand-Chaos verschwindet Rorys geliebter Hund Duck, einziger Freund und ständiger Begleiter. Auf der Suche nach Duck kommt die Ich-Erzählerin – auch dank Heidi – der „Sache mit dem Glück“ etwas näher, so dass sie am Ende selbstbewusst fordert: „Ich bin in Ordnung, so wie ich bin, also finde dich bitte damit ab.“
Sarah Weeks berührende Familien- und Selbstfindungsgeschichte einer Außenseiterin ist lose verknüpft mit ihrem Kinderbuch „So be it“ (DJLP-Nominierung 2006, RE 24), worin von Heidi und deren geistig behinderter Mutter erzählt wird. Heidi und deren Mutter verständigten sich darin mittels einer klangvollen Fantasiesprache („Piepisch“). So stand z. B. „Soof“ für Liebe. In Erinnerung an Heidis Mutter hielt sich in Rorys Familie nicht nur das Wort „Soof“. Rory spricht mit Duck ebenfalls „Piepisch“. Diese Verknüpfung vermittelt zum einen die ganz eigene Rory-Duck-Welt, signalisiert aber auch schon früh eine Bindung zwischen Rory und Heidi, obwohl sich beide erst spät begegnen. Mehr noch: Heidi ist in Gesprächen bzw. in Rorys Reflexionen als Reibungsfigur und Projektionsfläche stets anwesend. So wird erlebbar, wie sich Rorys Abwehr gegen Heidi auf subtile Weise in Zuneigung wandelt, was wiederum Rorys Selbstwertgefühl stärkt. Die Parallel-Präsenz beider Figuren innerhalb des Erzählten erzeugt eine an den Text bindende psychologische Spannung, die Lesende herausfordert, Rorys Perspektive zu hinterfragen und sich ein eigenes Heidi-Bild zu machen. Herausfordernd wirken ebenfalls die rätselhaft-poetischen Kapitelüberschriften. Da heißt es z. B. für das Brand-Kapitel „Mehr, als ein Funke das Fliegen liebt“ oder später „Mehr, als ein Vogel das Singen liebt“ …
Wer spricht da bzw. wer könnte wen oder was „mehr“ lieben als …? Fallen Kindern ähnliche Vergleiche ein, eventuell mit Hilfe des Covers? Und was hat das alles mit dem Buchtitel zu tun?
(Der Rote Elefant 40, 2022)