„Real“ läuft es so: Im Garten steht ein Hühnerstall und ist leer. Die Idee liegt nahe, im Wohnzimmer sechs Küken aufzuziehen und später umzusetzen. Mutter“ sorgt erst für einen kleineren, dann größeren Pappkarton mit allen für die Aufzucht erforderlichen Utensilien, füttert den Nachwuchs und erzählt ihm Geschichten. Obwohl vorerst nicht klar ist, ob aus den Küken Hennen oder Hähne werden, erhält jedes sofort einen Namen. Das vermeintliche Hähnchen heißt Chick. Ab hier wird es „fantastisch“: Chick träumt immer wieder davon, „Bosshahn“ zu werden: ein mächtiger König, dem die anderen dienen, der die Welt bereist, gefährliche Abenteuer besteht, vor allem aber den Fuchs das Fürchten lehrt! Allerdings wachsen Chick weder ein großer Hahnenkamm und prächtige Schwanzfedern, noch gelingt ihm ein kräftiger Hahnenschrei. Stattdessen kräht irgendwann Huhn Hennriette. Und als der Fuchs Hennri(ette) klauen will, wird Chick zum „Bosshuhn“!
Meschenmoser erzählt eine doppelbödige Geschichte rund um Rollenklischees und Identitätsfindung. Nach einem Vorspann in die „beinahe wahre Geschichte“ führt er diese in kurzen und emphatischen Sätzen weiter. Birgt bereits sein Text viel Augenzwinkern, treibt er dieses in den Illustrationen (inklusive „Mutter“-Selbstporträt) gleichsam auf die Spitze.
Bildlich setzt der Künstler die Textebenen mittels unterschiedlicher Stile bzw. Genres um: Die „reale“ Rahmengeschichte gestaltet er vor großzügig weiß gehaltenen Hintergründen in doppel-, ganz- und halbseitigen Zeichnungen, in welche er viele der Natur abgeguckte Details integriert und eher ‚natürliche‘ Farben verwendet. Chicks eingebettete „Boss“-Fantasien setzt er doppel- und mehrseitig in abwechslungsreiche, künstlerische Vorbilder adaptierende Comics um, teils sehr farbkräftig oder in Schwarz-Weiß.
So stellt er den noch ganz kindlichen Protagonisten in gleichmäßigen Panels als Bildgeschichte vor, die Dramatik der Fuchs-Episode spiegelt sich in zerschnittenen oder einander überlagernden Panels und der Henne-Alptraum in schaurig wirkenden Einzelbildern. Besonders beeindruckt dabei die mit liebevollem Witz gestaltete Charakteristik des sich doppelt verschätzenden „Helden“. Dessen Wechselbad der Gefühle drückt sich in menschennaher Mimik und in Haltungen aus, die fast jedem Kind geläufig sind – egal, in welcher Art oder Phase von Identitätsfindung es steckt.
Die Vorsatzpapiere des großformatigen, meisterhaften Gesamtkunstwerkes zieren vorn lauter Eierschalen und geschlüpfte Küken, hinten – neben Blumen und Eiern – etliche junge Hennen und Hähne. Alle strahlen (schon) Charakter aus. Es dürfte viel Spaß machen, ihnen Namen zu geben und sich ebenfalls Geschichten über sie auszudenken.
(Der Rote Elefant 39, 2021)