„Du bekommst nur eine einzige Chance im Leben; wenn die kommt, darfst du nicht zögern“, wird Albert prophezeit. Bisher bekam er diese nicht. Für die Mutter ist der 11-Jährige ein „Irrtum“, die fünf zu jedem Casting getriebenen Schwestern ignorieren ihn. Die Familie lebt in einem verwahrlosten Hochhaus am Stadtrand. Darin geboren, liebt Albert das sogenannte „Sommerhaus“ über alles. In Kalinda, die neu einzieht, gewinnt er eine Freundin. Beide sehen eines Nachts einen Riesen, folgen tagsüber dessen Spur und freunden sich mit ihm an. Bisher lebte der Riese unter der Erde, verließ aber verbotener Weise diese „Innenwelt“. Als das Haus in der „Außenwelt“ wegen eines Unwetters fast einstürzt, ist der Riese zur Stelle. Doch es droht weit größere Gefahr. Eine ehemalige, reich gewordene Bewohnerin betreibt den Abriss. Alle Mieter müssen raus! Albert, der nun in ein „Heim für unglückliche Kinder“ soll, ergreift ohne Zögern die „eine“ Chance und taucht in die Innenwelt der Riesen ab.
Der Autor, früher Sozialarbeiter, kennt das Milieu der gesellschaftlich Abgehängten genau. Sein Figurenensemble bildet die entsprechende Bevölkerungsschicht überzeugend ab. Neben Albert, dessen Schicksal er in 20 Kapiteln und einem Nachtrag erzählt, zeigt sich dies auch in den Nebenfiguren und deren Überlebensstrategien. Dazu zählen der eine Moped-Gang anführende, sich als Rapper versuchende Schnelle Dschi, die regelmäßig ihren Hund aus dem 9. Stock werfende Frau Urgel oder Rosie, die ihre Wohnung als Laden umfunktioniert. Trotz sozialkritischem Impetus wirkt Boonens Erzählweise nie bloßstellend, sondern eher freundlich-karikierend oder augenzwinkernd-warmherzig.
Eindeutig vermittelt sich die Sympathie des Autors für die auf sich gestellten, abenteuerlustigen, Zuwendung wünschenden und einander verstehenden Kindfiguren samt phantastischem Freund. Allerdings birgt die eher an jüngere Leser gerichtete Phantasieebene eine Crux. Der Riese spiegelt bzw. verkörpert, leider gänzlich nach Außen gewendet, ausschließlich die Innenwelt des Jungen. Der deutsche Titel – präzise übersetzt hieße er „Der Riese vom Sommerhaus“ – ist irreführend, denn der eigentliche Riese ist Albert! Von Alter, Lebens- und Leseerfahrung hängt ab, ob dies verstanden wird. Gerade weil das Buch betroffene Kinder stärken und Nichtbetroffene zum Nachdenken anregen will, wäre ein Gespräch nach Kenntnis des Textes hilfreich, insbesondere über das offene Ende bzw. einen möglichen hoffnungsvollen Fortgang. Impulse dazu böten die z. T. comicartigen Illustrationen, welche – kontrastreich in Farben und Proportionen – Realismus und Magie des Textes gekonnt einfangen. Als Ausgangspunkt könnte der Vergleich zwischen Wärme und Freundlichkeit ausstrahlendem Cover und Tristesse spiegelndem Eingangsbild dienen.
(Der Rote Elefant 34, 2016)