„Weißt du, man darf nicht dichtmachen, das darf man einfach nicht.“ Emma versteht, was die Mutter meint. Endlich, nach Monaten, reden sie wieder miteinander – über ihr jeweiliges Heimweh. Damals waren sie von Dublin nach (Ost-)Deutschland gekommen: ins Elternhaus der Mutter nahe der Ostsee mit den fremden Großeltern, hässlichen Möbeln, unbekannten Wörtern, dem harten Brot. 20 Jahre zuvor hatte die Mutter ihre Heimat verlassen, in Irland geheiratet und dort Dara, Emma und Aoife geboren. Das Scheitern der Ehe veranlasste sie zur Rückkehr nach Velgow – gegen den Willen der Kinder. Die waren mit ihrem Leben in Dublin „noch gar nicht fertig“, kamen in die Fremde. Während sich der 16-jährige Dara anscheinend mühelos einlebte, stellte Aoife aus Protest das Sprechen ein. Und Emma beschloss, schnellstmöglich nach Irland, nach Hause, zurückzukehren: an den Atlantik, zu Granda Eamon, den irischen Schimpfwörtern, Teebeuteln ohne Bändchen, dem weichen Soda Bread. Doch dann lernte Emma Levin kennen, der sie verstand und bei ihrem Fluchtplan unterstützte. Als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, kam wiederum alles ganz anders …
Alle Figuren des Krellerschen Romans, ob Zuzügler oder Einheimische, sind von Verlusterfahrungen geprägt: Verlust von Menschen, Heimat, Identität. Das verbindet sie ebenso wie die Einsilbigkeit, Sprachlosigkeit, Stummheit, mit der sie – jeder und jede für sich – versuchen, der gegenwärtigen Situation gewachsen zu sein. Ganz langsam beginnen sie, Vertrautes im Neuen zu entdecken, beginnen einander zu verstehen, finden sich. Darin gleichen sie „elektrischen Fischen“, denn „die erkennen sich, egal wie trüb das Wasser ist.“
Susann Kreller gelingt, wie schon in „Schneeriese“ (DJLP 2015, RE 33), die poetisch-sensible Darstellung eines vielschichtigen Veränderungsprozesses. Sie verleiht der Ich-Erzählung ihrer etwa 13-jährigen, zweisprachig aufgewachsenen Protagonistin Emma eine große Intensität und Unmittelbarkeit, indem sie Emma im Präsens erzählen lässt, obwohl Emma eigentlich zurückblickt, was nur an wenigen Stellen erkennbar wird. Überzeugend verdeutlicht Kreller das Verwurzeltsein Emmas in der irischen Kultur. Ausdruck dafür sind deren sinnliche Erinnerungen und ihr Bezug zu Mythen, Liedern und Gedichten, also „Sprache“ überhaupt. Das allmähliche Ankommen der zunächst wütend-hilflosen Emma im „trostlosen“ (fiktiven) Velgow ist dann auch verbunden mit neuen Wörtern wie Kartoffelrosen, Hühnergott, Essengeldturnschuhe, Kapernklopse. Und mit der Erkenntnis, „dass home dort ist, wo du gemocht wirst, wo dich zwei Menschen mögen oder zwanzig oder nur einer.“
Eine Sammlung von Wörtern, die Jugendliche mit dem Begriff „Heimat“ verbinden, könnte Einstieg in die Geschichte sein.
(Der Rote Elefant 38, 2020)