„Es war ein Samstag, glaube ich“, da treiben Ida, Jock und dessen kleiner Bruder Max auf einer Eisscholle vom Vogelbeerbach über einen Fluss bis ins Eismeer. Unterwegs bestehen sie Gefahren, haben Angst, weinen gemeinsam, treffen Pinguine und sehen Polarlichter. Eine frühere Polarforscherhütte bietet Lebensmittel und Schutz. Als ein Sturm die Hütte zerstört, zimmern die Kinder aus den Trümmern ein Boot, segeln Richtung Heimat und landen am Vogelbeerbach. Ida: „Es dauert eben lange, bis man von einer Welt zur anderen kommt“.
In bester schwedischer Kinderliteraturtradition gestaltet das Künstlerpaar Tidholm seit über 40 Jahren Bücher über autonome Kinderwelten, worin Erwachsene kaum vorkommen. Brachen im Bilderbuch „Die Reise nach Ugri-La-Brek“ (DJLP 1992) Kinder ins Totenreich auf, um ihren verstorbenen Opa zu suchen, so steht auch in vorliegendem Buch das Reisemotiv im Mittelpunkt, aber neben Abenteuererlebnissen und Bewährungsproben stellt sich die Frage, welche Welten meint Ida? Die Welt des Dorfes versus der des hohen Nordens oder die reale Welt versus kindlicher Fantasie-Spiel-Welt? Idas Bericht suggeriert Wahrheit, aber ihr „glaube ich“ im Eingangssatz stellt diese in Frage. Auch die Illustrationen liefern Irritationen. Warum gleicht der Fluss in der Buchmitte dem Vogelbeerbach am Buchanfang? Die Hütte im hohen Norden dem Sommerhaus im Dorf? Sogar „Fischbällchen“ finden sich in der Hütte, das Lieblingsessen der Kinder! Und warum strahlt das Polarlicht auf einer ins Bild gesetzten Fläche wie auf einer Kinoleinwand? Anna-Clara Tidholm setzt mit Tinte, Buntstift und Aquarellfarben zum einen spitz-graue Berge, schwarze Meer- und endlose Schneeflächen ins Bild, worin sich die Kinder wie farbige Zwerge verlieren. Daneben jedoch zeigt sie über Nahaufnahmen unermüdliche Aktivität und unauflösbaren Zusammenhalt: Stets sind alle drei im Bild! Bei Rückkunft ist das viele Schwarz und Weiß sanftem Braun gewichen, der Bach leuchtet grün, grün wie das Eismeer bei der Hütte im hohen Norden.
Um die Fantasiespielebene aufzunehmen, könnte als Einstieg die Illustration „Kinder in der Hütte“ dienen, ergänzt durch Idas Listenankündigung, „was man alles machen kann, wenn man irgendwo weit weg von zu Hause in einer kleinen Hütte im Schnee eingeschlossen ist“. Vor Idas Liste könnten Kinder ihre Vorschläge einbringen, was darauf neugierig macht, zu erfahren, wie Ida, Jock und Max in diese Lage bzw. Hütte kamen. Idas „Wahrheit“ gäbe Gesprächsstoff, wobei mitgedacht werden könnte, ob Kinderspiele wahr sind und zwischen ihnen und der Wahrheit in Literatur bzw. Kunst Zusammenhänge bestehen.
(Der Rote Elefant 40, 2022)