Die historische und ästhetische Dimension dieses Kunstwerks böte Stoff für eine umfassende wissenschaftliche Untersuchtung. Dennoch muss es hier (kurz) empfohlen werden, unbedingt!
Kinder werden zunächst einfach die Geschichte lesen: Annika und Pepicek wollen für die Mutter Milch holen, haben aber kein Geld. Unterstützung finden die armen Geschwister nur bei Tieren und anderen Kindern. Die Kraft der Schwachen überwindet schließlich sogar den Bösewicht Brundibar.
Vermutlich behindern weder die verschiedenen Textarten (Sprechblasen, Erzähltext, Aufschriften auf Häusern, Plakaten, Transparenten …) noch die sich verändernde Farbigkeit der Bilder den Lese- und Betrachtungsvorgang. Die Sprache überzeugt durch Einfachheit und Klarheit – dank der Leistung des Schriftstellers und der Übersetzerin! Anfangs erscheint der Erzähltext als Sprechblase der Kinderfiguren, wird aber in dem Moment, als die Kinder sich auf den Weg machen, zu einem in Versalien gesetzten, frei gestellten Textblock. Die persönliche Erzählung weitet sich ins Allgemeine. Beim genaueren Hinsehen könnte Kindern auffallen, dass bestimmte Figuren, wie z.B. der „tanzende“ Arzt mit gelbem Abzeichen, das ganze Buch durchziehen. Einige Figuren singen, andere sprechen … Die Stadtkulisse verändert ihre Farbigkeit ebenso wie der Milcheimer. Brundibar ist auffällig militärisch gekleidet. Irgendwann brauchen Kinder einen Erwachsenen, der mit ihnen das Buch „entschlüsselt“.
Genial und meisterhaft verbindet Sendak in seinen Illustrationen das Libretto der Kinderoper „Brundibar“ mit dessen Geschichte und der Geschichte der Judenvernichtung. (Die Oper wurde in Theresienstadt über 50x aufgeführt.)
Das Libretto erzählt vom Sieg der Guten und Hilfreichen über die Mächtigen und Bösen – ein Märchen mit glücklichem Ausgang. Tony Kushner verbindet den Erzähltext mit wörtlicher Rede und Liedtexten, nutzt tschechische und hebräische Wörter und Sätze, komponiert diese in die Bilder. Oder war das bereits Sendak? Sendak interpretiert Brundibar als Machthaber in napoleonischer Kleidung. Brundibars Gesicht ähnelt dem Hitlers, seine Begleiter: Todesvögel. Ein Rabe schmückt den Leierkasten. Unter Brundibars drohendem Abschiedsgruß liegt eine Einladung zur Opernaufführung in Theresienstadt.
Sendaks künstlerische Mittel und ihre Funktion zu entdecken ist eine immense geistige Herausforderung. Wiederholtes genaues Ein“sehen“ fördert immer wieder neue Details, Bezüge, Verweise, Widersprüche zutage, die nur decodieren kann, wer historische Kenntnisse besitzt. Immer wieder provozieren Entdeckungen neue Fragen … So wird „Brundibar“ zu einem Lehrbuch im besten Sinne.
Die Spuren, die beide Künstler virtuos legen, dienen der Aufklärung und Warnung.
Wie könnte man mit Kindergruppen arbeiten? Ein Bilderbuchkino (Dialogfolge) wird ergänzt durch die Anfertigung eines Glossars, das die Fülle an Symbolen und Zeichen, an original tschechischen und hebräischen Texten und die vielen Anspielungen auflistet und nach und nach deutet. Das Glossar wird anwachsen – es braucht Zeit, so wie die Rezeption des Buches insgesamt.
(Der Rote Elefant 23, 2005)