Am Romananfang hängt die 15-jährige Protagonistin kopfüber im Apfelbaum. Larry trainiert „Aushalten“. „Wer aushalten kann, muss vor gar nichts Angst haben“, lautet ihre Überzeugung und das ist nicht nur für ihre geplante Zukunft als Kriegsreporterin wichtig. „Aushalten können“ gilt auch für die Gegenwart: das Zusammenleben mit der Mutter, die selten da ist und nicht viel redet, und wenn, dann bestimmt nicht über die „Gespenster“, die in den Umzugskisten ganz hinten in der Garage stecken; das Aufwachsen in einer Kleinstadt in Vorpommern zwischen Netto, Schwanenteich und den Schatten der Vergangenheit. Bei der Nachbarin löst das Mädchen im Baum dunkle Erinnerungen aus. Die hochbetagte Frau Dohlberg ist Überlebende des größten Massensuizids der deutschen Geschichte, der sich Ende des Zweiten Weltkriegs in Demmin ereignete. Menschen, die in Bäumen hängen bzw. mit Steinen in den Taschen in die Peene gehen, bestimmen nicht nur ihr persönliches Trauma, sondern sind Teil des kollektiven Traumas der Stadt. Aber auch in Larrys Familie gibt es ein Trauma, an dem die Beziehung der Eltern zerbrach.
In Verena Keßlers Romandebüt ist der Tod auf vielfältige Weise anwesend, verbunden mit Schuld und Verantwortung, mit denen sich alle Figuren auseinandersetzen müssen. Dabei gelingt es der Autorin mittels einer sachlichen und doch sehr bildhaften Sprache, eine Art Alltäglichkeit bzw. Vertrautheit mit den titelgebenden „Gespenstern“ herzustellen, so als gäben sich diese an den verschiedenen Schauplätzen die Klinke in die Hand, stiegen aus Kellern ans Licht und säßen mit am Küchentisch. So etwa in der Küche der alten Frau oder auf dem Friedhof, wo Larry ihr Taschengeld aufbessert. Beider Leben und Erleben stehen gleichberechtigt nebeneinander, wechseln kapitelweise lose ab und sind motivisch eng verwoben. Das stärkere Verhaftetsein in Gegenwart oder Vergangenheit löst Keßler gekonnt erzählperspektivisch. Wählt sie für die spontane Larry die „Ich“-Form, so nähert sie sich der alten Frau und deren „Gespenstern“ über eine personale Erzählweise. Deutlich wird das Gefangensein der Generationen in ihren jeweils eigenen Welten, aber auch die Empathie der Autorin für ihre Figuren, für die sie Wege zur Selbstbefreiung andeutet. Der stellenweise melancholische Text wirkt nie trostlos und wird durch den lakonischen Humor der Ich-Erzählerin immer wieder gebrochen.
Da „Die Gespenster von Demmin“ auch vom Erwachsenwerden nebst erster Liebe und Freundschaft erzählen, eignet sich der komplexe Roman unbedingt als Jugendlektüre, obwohl er kein intendiertes Jugendbuch ist.
(Der Rote Elefant 39, 2021)